70. DJT: Beschlüsse der Abteilung Prozessrecht und eine erste Einschätzung

Die Beschlüsse des 70. DJT sind seit gestern Abend online. Die Beschlüsse der Abteilung Prozessrecht sind m.E. erstaunlich progressiv und könnten die Grundlage für eine sinnvolle und notwendige Fortentwicklung des Zivilprozessrechts bieten, ohne mit Verfahrensgrundsätzen zu brechen.

Besonders auffällig erscheint mir - insbesondere nach den Diskussionen hier im Blog - die breite Zustimmung für einer jedenfalls teilweisen Flexibilisierung der Geschäftsverteilung (Einzelzuweisungen durch das Präsidium, These 8), den Einsatz wissenschaftlicher Mitarbeiter (These 12) und die Forderungen zur weiteren Spezialisierung (Thesen 1-3). Sehr sinnvoll erscheinen mir auch die Pflicht der Parteien, ihren Vortrag stärker zu strukturieren (These 13) und die Erheblichkeit von Berufungsrügen näher darzulegen (These 25) sowie gerichtlicherseits eine erweiterte Möglichkeit, Teilurteile zu erlassen (These 22)

Etwas schade finde ich, dass eine Fortbildungspflicht für Richter (These 5) keine Mehrheit gefunden hat, was in einer erstaunlichen Diskrepanz zur Forderung nach einer stärkeren Spezialisierung steht.

Auf diesem Weg auch noch einmal vielen Dank an RA Peter Bert, der mich in den letzten Tagen über Twitter auf dem Laufenden gehalten hat.

 I. Spezialisierung

1. Bei den Landgerichten sind obligatorisch für einen Katalog wichtiger Rechtsgebiete Spezialkammern einzurichten, z.B. für Bausachen, Arzthaftungssachen, Kapitalanlagenhaftungssachen, Versicherungsvertragssachen, Softwarevertragssachen etc.

angenommen 62:10:1

2. Die Regelungen über die Kammern für Handelssachen sind mit dem Ziel einer Spezialisierung nach Sachgebieten zu modernisieren.

angenommen 66:9:6

3. Der Gesetzgeber sollte für einen Katalog gesellschaftlich besonders wichtiger Rechtsgebiete, für die die Amtsgerichte streitwertunabhängig erstinstanzlich zuständig sind, auch bei den Amtsgerichten die Errichtung von Spezialabteilungen zwingend vorschreiben (insbesondere für WEG-Sachen und Wohnraummietsachen).

angenommen 43:29:7

4. Den Ländern wird die Einführung von Kammern für internationale Handelssachen mit der Gerichtssprache Englisch ermöglicht.

angenommen 49:19:12

5. Es sind Fortbildungsanforderungen als gesetzliche Voraussetzung für die Verwendung von Richterinnen und Richtern zu statuieren, damit formale Spezialisierung und Qualifikation der Richter korrelieren.

abgelehnt 39:39:3

6. Der Gesetzgeber sollte in besonderen Rechtsgebieten, in denen häufig auch eine gerichtsbarkeitsübergreifende juristische Kompetenz gefragt ist, die Möglichkeit schaffen, dass optional auch Richterinnen und Richter aus einer anderen Gerichtsbarkeit zur Entscheidung hinzugezogen werden können (Vorbild: Kammern für Baulandsachen).

angenommen 53:19:8
6.

a) Der Gesetzgeber sollte die Option schaffen, dass Spruchkörper auch nichtjuristische Fachkundige als (Laien-)Richter beiziehen können.

abgelehnt 9:71:1

alternativ:

b) Fehlt nichtjuristische Fachkunde, soll der Spruchkörper Fachkundige als Berater hinzuziehen.

abgelehnt 37:40:4
II. Flexibilisierung

8. Der Gesetzgeber sollte - unter Wahrung des Gebots des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG - dem in richterlicher Unabhängigkeit handelnden Präsidium bzw. Spruchkörpergremium die Befugnis geben, Verfahren anhand überprüfbarer sachlicher Kriterien durch einen zu begründenden Beschluss auch abweichend von der Jahresgeschäftsverteilung zuzuweisen.

angenommen 61:13:7
9. Auf Antrag einer Partei soll eine vom Geschäftsverteilungsplan abweichende Zuweisung von Verfahren möglich sein, sofern nicht die andere Partei binnen einer festzusetzenden Frist widerspricht. abgelehnt 10:72:2
10. Beantragen die Parteien beim Präsidium des zuständigen Gerichts übereinstimmend, ihr Verfahren einem bestimmten Richter oder Spruchkörper zu übertragen, kann das Präsidium dem entsprechen. abgelehnt 14:68:2
11.

a) Der Gesetzgeber soll die Möglichkeit der erstinstanzlichen Anwahl bestimmter Spruchkörper bei LG und OLG unabhängig von den bestehenden Regelungen zu örtlicher und sachlicher Zuständigkeit schaffen (funktionelle Gerichtsstandswahl).

abgelehnt 7:64:10
alternativ:b) Antrag Fölsch:

Der Gesetzgeber sollte für Parteien die Option schaffen, als Eingangsinstanz das LG statt des AG und das OLG statt des LG auszuwählen bei gleichzeitigem Verzicht auf eine Rechtsmittelinstanz (Berufungsinstanz). Dabei ist für diese Fälle sicherzustellen, dass die Kammer bzw. der Senat durch drei Richter entscheidet. Die Gerichts- und Rechtsanwaltsgebühren sollen sich nach der höheren Instanz richten.

angenommen 54:25:5
12.
a) In komplexen Verfahren können Spruchkörpern juristische Mitarbeiter zur Aufarbeitung und Vorbereitung eines Verfahrens zugewiesen werden. angenommen 39:36:3
b) Richter sollen als Wissenschaftliche Mitarbeiter auch in den Instanzgerichten eingesetzt werden können, ohne einen Spruchkörper planmäßig anzugehören. angenommen 56:24:5
  III. Reform des Erkenntnisverfahrens

13. Über verbindliche Regelungen ist sicherzustellen, dass die Parteien ihren Vortrag zum tatsächlichen und rechtlichen Vorbringen strukturieren.

angenommen 41:38:5

14. Klage und Klageerwiderung sind vom Umfang her zu begrenzen.

abgelehnt 16:61:10
15. Für den Fall der Annahme von 13 und/oder 14:

Damit verbunden wird eine Verpflichtung des Gerichts zu vertiefter Prozessleitung, die bei Wahrung des rechtlichen Gehörs zu einer Abschichtung des Vortrages führt.

angenommen 46:30:8

16. Im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung müssen Parteien auf richterliche Anordnung auch zu den Tatsachen wahrheitsgemäß vortragen, für die sie weder die Behauptungs- noch die Beweislast tragen.

abgelehnt 37:38:11

17. Vortrag dazu, warum das benannte Beweismittel aus Sicht der Partei beweistauglich („subjektiv beweisgeeignet“) ist, ist verpflichtend.

angenommen 55:25:4

17 a) Der Sachverständigenbeweis muss reformiert werden, um die Beweisgewinnung zu beschleunigen.

angenommen 66:8:10

17 b) Antrag Rechtsanwalt Dr. Müller, Frankfurt am Main:

(1) Auf Antrag beider Parteien kann das Verfahren des Sachverständigenbeweises so gestaltet werden, dass nur die Parteisachverständigen beider Seiten angehört werde.

abgelehnt 8:68:8

(2) Auf Antrag einer Partei kann das Gericht für bestimmte Teile des Verfahrens ein Wortprotokoll anordnen. Voraussetzung ist, dass die beantragende Partei - unabhängig von der Erstattungsfähigkeit - die Verpflichtung übernimmt, die dadurch entstehenden Kosten zu tragen.

abgelehnt 21:53:9

18. Für geeignete Gegenstände, wie etwa das Bauwerkvertragsrecht, ist ein beschleunigtes Erkenntnisverfahren zu entwickeln.

angenommen 37:34:11

19. In die ZPO sind Sonderregeln für langdauernde Verfahren aufzunehmen, die sicherstellen, dass diese noch vor Eintritt einer verfassungswidrigen Überlänge endgültig erledigt werden.

abgelehnt 27:52:4

20. Der Gesetzgeber sollte den Parteien eines staatlichen Gerichtsverfahrens die Option zur Vereinbarung einer Verfahrensordnung geben (wie §§ 1042 ff. ZPO).

abgelehnt 20:55:6

21. Der Gesetzgeber sollte prüfen, ob und wenn ja in welchem Umfang ein Bedürfnis besteht, die Vertraulichkeit auch des staatlichen Gerichtsverfahrens auf übereinstimmenden Antrag der Parteien vom Gericht anordnen lassen zu können.

angenommen 47:22:11

22. Der Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen ist neu zu strukturieren, insbesondere der Erlass von Teilurteilen ist zu vereinfachen; Teilurteile sind auch dann zulässig, wenn ein Widerspruch zwischen Teil- und Schlussurteil droht.

angenommen 44:22:16

23. Die Voraussetzungen für den Erlass des Zwischenurteils über den Grund sind durch den Gesetzgeber neu festzulegen. Das Zwischenurteil über den Grund darf nur ergehen, wenn sein Erlass den Abschluss des Rechtsstreits erkennbar beschleunigt.

angenommen 50:25:8

24. Es ist bei hoher Wahrscheinlichkeit des auszuurteilenden Anspruchs der Erlass eines „Urteils (auch Teilurteils) vorbehaltlich abschließender Abrechnung“ zu ermöglichen.

abgelehnt 29:34:19

25. In der Berufungsbegründung ist die Erheblichkeit der erhobenen Rügen darzulegen und die Überprüfung auf diese Rügen zu beschränken.

angenommen 50:26:6 
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