BGH: Anforderungen an die tatrichterliche Ermittlung ausländischen Rechts

Nach § 293 ZPO ist ausländisches Recht im deutschen Zivilprozess nicht „Recht im eigentlichen Sinne, sondern Gegenstand tatrichterlicher Beweiserhebung bzw. Ermittlung. Die Anforderungen an den Umfang der gerichtlichen Ermittlungen konkretisiert das Urteil des BGH vom 14.01.2014 – II ZR 192/13. Sachverhalt In dem vom BGH zu entscheidenden Fall machte ein Sozialversicherungsträger gegen den ehemaligen Geschäftsführer einer GmbH einen Schadensersatzanspruch aus §§ 823 Abs. 2 BGB, 266a StGB geltend. Dem Beklagten war zwar zwischenzeitlich nach englischem Recht (und nach nur einem Jahr) die Restschuldbefreiung erteilt worden. Die Klägerin war aber der Ansicht, dass ihre Forderung hiervon nicht erfasst sei. Denn sie hatte ihre Forderung in dem englischen Insolvenzverfahren als „claim in tort“ angemeldet. Die § 302 Ziff. 1 InsO entsprechende Bestimmung im englischen Recht (Sec. 2+81 (3) Insolvency Act 1986) lautet:
„Discharge does not release the bankrupt from any bankruptcy debt which he incurred in respect of, or forbearance in respect of which was secured by means of, any fraud or fraudulent breach of trust to which he was a party.“
Die Vorinstanz hatte hier beim Max-Plank-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht die Kosten für ein Sachverständigengutachten angefragt, die sich auf ca. 3.500 - 4.000 € belaufen sollten. Es hatte sich dann – wohl auch angesichts des Streitwertes – darauf beschränkt, nach dem Europäischen Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht eine Auskunft des Foreign & Commonwealth Office einzuholen. Dies hatte die Anfrage wie folgt beantwortet: „If the debtor has committed fraud in relation to social insurance contributions then this may fall under section 2+81 (3) IA 1986. A fraudulently intention not to pay social insurance may fall within section 2+81 (3) but this would depend on the circumstances. The fraudulent element would need to (be) proved.“ Auf diese Auskunft hatte sich das Gericht gestützt und die Klage als unbegründet abgewiesen.

Die Restschuldbefreiung führt nach deutschem Recht dazu, dass die Verbindlichkeiten des Schuldners zu unvollkommenen Verbindlichkeiten (sog. Naturalobligationen) werden. Von der Restschuldbefreiung ausgenommen sind gem. § 302 InsO aber insbesondere Forderungen aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung, sofern der Gläubiger diese als solche zur Insolvenztabelle angemeldet hatte. Eine vergleichbare Regelung trifft Sec. 2+81 (3) Insolvency Act 1986 für Großbritannien, wohin der Beklagte hier wohl seinen Wohnsitz verlegt hatte (mutmaßlich, um nicht erst nach sechs Jahren (§ 287 Abs. 2 InsO) sondern bereits nach einem Jahr (Sec. 2+79 (1) IA 1986) von seinen Verbindlichkeiten befreit zu werden). Fraglich war hier, ob die Forderung hier von der Restschuldbefreiung erfasst war. Das richtete sich gem. Art. 4 Abs. 1 EuInsVO nach englischem Recht und damit nach Sec. 2+81 (3) IA 1986. Inländisches Recht kann dabei nicht Gegenstand tatrichterlicher Beweisaufnahme sein, auch wenn es um äußerst entlegene Rechtsgebiete geht. Denn Recht hat das Gericht bzw. der Richter zu kennen (iura novit curia), ggf. hat er sich die erforderliche Kenntnis von Amts wegen zu verschaffen. Etwas anderes gilt aber, wenn vor einem deutschen Gericht – wie hier – ausländisches Recht Anwendung findet. In einem solchen Fall wird vom Gericht keine eigene Sachkunde erwartet. Fehlt diese Sachkunde (vgl. § 293 Satz 1 ZPO), hat das Gericht von Amts wegen den Inhalt des ausländischen Rechts zu ermitteln. Die geschieht zwar häufig in den Formen der Beweisaufnahme, es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Beweisaufnahme im eigentlichen Sinne, so dass z.B. der Beibringungsgrundsatz oder § 138 Abs. 3 ZPO nicht anzuwenden sind. Bei der Ermittlung des ausländischen Rechts ist das Gericht nicht auf die Beweismittel der §§ 371 ff. ZPO beschränkt, kann also im Freibeweisverfahren vorgehen und z.B. mit amtlichen Auskünften arbeiten. Jedenfalls bei komplexeren Rechtsfragen wird aber häufig ein Sachverständigengutachten eingeholt, was jedoch mit erheblichen Kosten verbunden ist.
Entscheidung
Das war nach Ansicht des BGH jedoch nicht ausreichend. Zwar seien der Inhalt und die Auslegung ausländischen Rechts nach § 545 Abs. 1 ZPO nicht revisibel. Das Berufungsgericht habe aber § 293 ZPO verletzt. Denn es sei verpflichtet, bei der Ermittlung ausländischen Rechts geeignete Erkenntnisquellen unabhängig von den Beweisantritten der Parteien zu nutzen und zu diesem Zweck das Erforderliche anzuordnen. Mit der eingeholten Auskunft allein genüge das Gericht dieser Pflicht nicht.

„Das Berufungsgericht [durfte sich] nicht mit der Auskunft des Foreign & Commonwealth Office vom 9. August 2012 zufriedengeben. Denn diese Auskunft beantwortet die gestellte Frage nicht erschöpfend, und es ist nicht auszuschließen, dass eine umfassendere Auskunft aufgrund einer Nachfrage bei der englischen Behörde oder auf anderem Wege hätte herbeigeführt werden können.

[Nach dem Inhalt der Auskunft] soll sich der Anwendungsbereich von Sec. 2+81 (3) IA 1986 danach richten, ob der Insolvenzschuldner mit der Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen einen „fraud“ begangen hat oder ob er dabei eine „fraudulently intention“ hatte. Diese Begriffe sind aber ihrerseits auslegungsbedürftig. Weiter kann für die Anwendbarkeit der Norm auch der Begriff „fraudulent breach of trust“ in Sec. 2+81 (3) IA 1986 von Bedeutung sein. Angesichts dessen wäre die erteilte Auskunft nur dann ausreichend, wenn auch der Sinn dieser Begriffe nach dem englischen Rechtsverständnis erklärt und insbesondere erläutert worden wäre, von welchen Umständen („circumstances“) die Anwendbarkeit von sec. 2+81 (3) IA 1986 darüber hinaus abhängt.

Das Berufungsgericht konnte von einer ausreichenden Ermittlung des ausländischen Rechts auch nicht deshalb ausgehen, weil die Klägerin selbst angeregt hatte, ein Vorgehen nach dem Londoner Übereinkommen zu prüfen, und weil sie nach Vorlage der Auskunft nicht eine Ergänzung oder ein Sachverständigengutachten beantragt hat, wie die Revisionserwiderung unter Bezugnahme auf § 295 ZPO geltend macht. Nicht das Vorgehen nach dem Londoner Übereinkommen war fehlerhaft, sondern allein der Umstand, dass sich das Berufungsgericht mit der erteilten Auskunft zufriedengegeben hat."

Anmerkung
Der Bundesgerichtshof hat dem Berufungsgericht auch noch eine sehr interessante und für die Praxis wichtige „Segelanweisung“ mit auf den Weg gegeben: „Das Berufungsgericht kann wegen der Unklarheit der Auskunft beim Foreign & Commonwealth Office nachfragen. Wenn die Nachfrage nicht erschöpfend beantwortet werden sollte, kommt die Einholung eines Sachverständigengutachtens in Betracht. Dass ein Gutachten ein Vielfaches des Streitwerts kosten wird, ist allein noch kein Grund, davon Abstand zu nehmen.tl;dr: Der Tatrichter darf sich bei der Ermittlung ausländischen Rechts nicht auf die Heranziehung der Rechtsquellen beschränken, sondern muss auch die konkrete Ausgestaltung des Rechts in der ausländischen Rechtspraxis, insbesondere die ausländische Rechtsprechung, berücksichtigen. (Leitsatz des BGH) Anmerkung/Besprechung, Bundesgerichtshof, Urteil v. 14.01.2014 – II ZR 192/13. Foto: ComQuat, BGH - Palais 2, CC BY-SA 3.0