BGH: Anwalt muss Gericht auf Missverständnis hinweisen

In einer sehr praxisrelevanten Entscheidung vom 26.09.2017 – VI ZR 81/17 hat sich der Bundesgerichtshof näher mit den anwaltlichen Pflichten im Berufungsverfahren befasst. Die Ausführungen sind insbesondere relevant, wenn das Berufungsgericht - wie häufig - gem. § 522 Abs. 2 ZPO verfährt und die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückweist.

Sachverhalt

In einem Arzthaftungsprozess behauptete der Kläger neben Aufklärungspflichtverletzungen auch, die Operation sei nicht indiziert gewesen, da konservative Behandlungsmöglichkeiten zuvor nicht ausgeschöpft worden seien. Dazu stützte er sich auf ein von ihm eingeholtes Privatgutachten. Das Landgericht holte ein Sachverständigengutachten ein und wies die Klage ab. Dabei bejahte es die Indikation der Operation, ohne sich näher mit den im Privatgutachten dargestellten konservativen Behandlungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen. Dagegen wendete sich der Kläger mit der Berufung, in der er auch den Vorwurf der fehlenden Indikation weiterverfolgte. Das Oberlandesgericht wies in seinem Beschluss gem. § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO allerdings (in Fettdruck) darauf hin, es gehe davon aus, dass der Vorwurf der fehlenden Indikation nicht weiterverfolgt werde. In seiner Stellungnahme auf den Hinweisbeschluss beantragt der Klägervertreter lediglich, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, korrigierte den Irrtum des OLG jedoch nicht. Nun wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde gegen den Zurückweisungsbeschluss.

Das Berufungsgericht hatte hier kein „normales“ Berufungsverfahren (mit mündlicher Verhandlung) durchgeführt, sondern war gem. § 522 Abs. 2 ZPO verfahren: Danach soll das Berufungsgericht die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss verwerfen, wenn es die Berufung einstimmig für unbegründet hält (und der Sache keine grundlegende Bedeutung beimisst). Mit dieser praktisch äußerst relevanten Regelung sollen die Berufungsgerichte entlastet werden. Bevor das Berufungsgericht die Berufung zuruckweisen darf, muss es gem. § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO aber darauf hinweisen und dem Berufungsführer die Möglichkeit zur Stellungnahme geben. Das hatte das Berufungsgericht hier auch gemacht, in dem Hinweisbeschluss aber irrtümlich angenommen, der Berufungsführer habe den Vorwurf, die Operation sei nicht indiziert gewesen, fallengelassen. Das hatte der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht korrigiert, rügte dies aber nun in seiner Nichtzulassungsbeschwerde gegen den Zurückweisungsbeschluss (§ 522 Abs. 2 Satz 3 ZPO). Damit begehrte er beim BGH die Zulassung der durch das OLG nicht zugelassenen Berufung (§ 544 ZPO). Fraglich war aber, ob er damit nicht etwas „spät dran“ war.

Entscheidung

Die Nichtzulassungbeschwerde hatte (insoweit) keinen Erfolg.

„Ohne Erfolg rügt die Nichtzulassungsbeschwerde (…), das Berufungsgericht habe unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht zur Kenntnis genommen, dass der Kläger in der Berufungsinstanz die Frage der Indikation der Operation zum Gegenstand seines Vorbringens gemacht habe.

a) Zwar ist das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass der Kläger den Vorwurf, die Operation sei nicht indiziert gewesen, mit der Berufung nicht mehr weiterverfolge.

Bei der gebotenen Würdigung des Berufungsbegehrens im Gesamtzusammenhang unter Berücksichtigung des Grundsatzes der interessengerechten Auslegung, die der Senat selbst vornehmen kann (…), besteht kein Zweifel daran, dass der Kläger mit der Berufung auch die Bejahung der Indikation durch das Landgericht angreifen wollte. Der Kläger führt auf S. 3 der Berufungsbegründung einleitend aus, im Wesentlichen stritten die Parteien über die Indikation zum operativen Vorgehen, über die „fehlerhafte Operation“ selbst sowie über Aufklärungsfragen hinsichtlich Risikoaufklärung und Aufklärung über echte Behandlungsalternativen. In der Folge stellt der Kläger die Argumentation des Landgerichts zu den drei genannten Themenkomplexen (…) dar.

Auf S. 5 ff. schließt sich die Würdigung des Urteils an. Unter Ziffer I. „Zum Behandlungsfehler“ wirft der Kläger dem Landgericht vor, dass das Urteil allein die Einschätzung des gerichtlich bestellten Sachverständigen wiedergebe und die widersprechende ärztliche Einschätzung des Privatsachverständigen nicht einmal erwähne. Das Landgericht habe sich mit dem Privatgutachten, aus dem sich Widersprüche zum Gerichtsgutachten ergäben, nicht auseinandergesetzt und die Widersprüche nicht aufgeklärt. Der Privatsachverständige sei zu der Überzeugung gekommen, dass im Rahmen der Behandlung des Klägers nicht sämtliche konservativen Behandlungsmöglichkeiten zur Behandlung der Tibialis posterior - Sehnen-Dysfunktion von Beklagtenseite vorgeschlagen und durchgeführt worden seien. Zur Behandlung hätten regressierende Behandlungsmöglichkeiten mit Gips oder Orthese sowie physikalische Maßnahmen zur Verfügung gestanden. Insoweit bezieht sich der Kläger auf die zusammenfassenden Ausführungen des Privatsachverständigen auf S. 53 des Gutachtens.

Der Kläger hat damit hinreichend klar zu erkennen gegeben, dass er den Vorwurf, die Operation sei nicht indiziert gewesen, mit der Berufung weiterverfolgen will.

b) Der Geltendmachung eines Gehörsverstoßes wegen Nichtberücksichtigung dieses Vorbringens steht aber der allgemeine Grundsatz der Subsidiarität entgegen.

aa) Nach diesem Grundsatz muss ein Beteiligter die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (…). Diese Würdigung entspricht dem in § 295 ZPO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken, nach dessen Inhalt eine Partei eine Gehörsverletzung nicht mehr rügen kann, wenn sie die ihr nach Erkennen des Verstoßes verbliebene Möglichkeit zu einer Äußerung nicht genutzt hat (…).

bb) So liegt es hier. Das Berufungsgericht hat in seinem Hinweisbeschluss vom 28. Oktober 2016 unter I. 1. ausdrücklich und in Fettdruck darauf hingewiesen, dass der Vorwurf, die Operation sei nicht indiziert gewesen, von der Berufung nicht mehr weiterverfolgt werde.

Dieser auf einer unzureichenden Befassung mit dem Berufungsbegehren beruhende Hinweis forderte eine Reaktion des Klägers geradezu heraus. Der Kläger hat die Möglichkeit, das Berufungsgericht auf das fehlerhafte Verständnis der Berufungsbegründung hinzuweisen, aber nicht genutzt. In seinem im Anschluss an den Hinweisbeschluss eingereichten Schriftsatz hat er lediglich beantragt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.“

Anmerkung

Beabsichtigt das Gericht, gem. § 522 Abs. 2 ZPO zu verfahren und nicht mündlich zu verhandeln, sollte daher größte Sorgfalt darauf gelegt werden, den Hinweisbeschluss des Gerichts sorgfältig zu prüfen und in der Stellungnahme auf den Hinweisbeschluss auf ggf. bestehende Missverständnisse hinzuweisen. Nur dann verspricht im Falle einer unberechtigten Zurückweisung eine spätere Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg. Das ist zwar im Ergebnis ein „Grundrechtsverlust durch Schweigen“, aber nur eine konsequente Fortschreibung der m.E. überzeugenden ständigen BGH-Rechtsprechung zur Subsidiarität der Nichtzulassungsbeschwerde. So muss beispielsweise auch eine Gehörsverletzung des erstinstanzlichen Gerichts bereits mit der Berufung geltend gemacht werden und kann nicht erst im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde gerügt werden. tl;dr: Nach dem allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatz muss ein Beteiligter die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern. Anmerkung/Besprechung, BGH, Beschluss vom 26.09.2017 – VI ZR 81/17. Foto: ComQuat, BGH - Empfangsgebäude, CC BY-SA 3.0