BGH: Beweiserleichtung gem. § 287 ZPO gilt nicht für Primärverletzungen

Wann eine streitige Tatsache zur vollen Überzeugung des Gerichts bewiesen sein muss (§ 286 ZPO) und wann bloße Wahrscheinlichkeit ausreichend sein kann (§ 287 ZPO), ist nicht immer einfach zu bestimmen, und auch die Rechtsprechung des VI. Zivilsenats scheint hier nicht immer vollständig konsistent. Für Personenschäden hat der VI. Zivilsenat des BGH seine Rechtsprechung deshalb kürzlich in einem Urteil vom 29.01.2019 – VI ZR 113/17 klargestellt.

Sachverhalt

Der Kläger nahm nach einem Verkehrsunfall die beklagte Haftpflichtversicherung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Dabei ist zwischen den Parteien unstreitig, dass der Versicherungsnehmer der Beklagten den Unfall allein verursacht hat. Den entstandenen Sachschaden regulierte die Beklagte in vollem Umfang. Der Kläger behauptet, er habe durch den Verkehrsunfall eine HWS-Distorsion und eine Verletzung des linken Knies erlitten. Ihm sei aufgrund der Knieverletzung ein Verdienstausfallschaden in Höhe von insgesamt 48.134,80 EUR entstanden. Außerdem fordert er wegen seiner Verletzungen sei ein Schmerzensgeld in einer Größenordnung von rund 3.000 EUR gerechtfertigt. Das Berufungsgericht hat auf Grundlage eines Gutachtens dem Kläger wegen der HWS-Distorsion ein Schmerzensgeld von 600 EUR zugesprochen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach Würdigung aller Umstände stehe zur Überzeugung des Gerichts im Sinne von § 286 ZPO fest, dass der Kläger unfallbedingt eine leichtgradige HWS-Distorsion erlitten habe. Dass sich der Kläger durch den Unfall darüber hinaus auch eine Verletzung des Kniegelenkes zugezogen habe, stehe hingegen nicht mit der für die volle Überzeugung des Gerichts erforderlichen Gewissheit im Sinne von § 286 ZPO fest. Denn es sei nicht auszuschließen, dass die Knieverletzung auf degenerative Veränderungen zurückzuführen sei. Dagegen wendet sich der Kläger mit der vom BGH zugelassenen Revision, mit der er insbesondere rügt, das Gericht habe hinsichtlich der Knieverletzung zu Unrecht den Beweismaßstab des § 286 ZPO angelegt. Angesichts der festgestellten HWS-Distorsion sei vielmehr § 287 ZPO anzuwenden, so dass es schon ausreiche, dass die Knieverletzung als Folge des Unfalls wahrscheinlich sei.

Gem. § 286 ZPO hat das Gericht „unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei.“ Das Gericht darf daher eine streitige Tatsache seiner Entscheidung nur zugrundlegen, wenn diese zur „vollen Überzeugung“ des Gerichts feststeht. Würde dies uneingeschränkt und damit auch für die Höhe eines Anspruchs gelten, müssten Klagen vielfach schon deshalb abgewiesen werden, weil sich die Höhe des Anspruchs nicht mit der insoweit erforderlichen Sicherheit feststellen lässt. Außerdem wäre die Feststellung der Höhe eines Anspruchs häufig nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand möglich. Für Schadensersatzansprüche bestimmt § 287 Abs. 1 ZPO deshalb (wenn auch nicht ausdrücklich), dass das Gericht hinsichtlich der haftungsausfüllenden Kausalität und des entstandenen Schadens eine überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreichen lassen kann. (Außerdem ermöglicht die Vorschrift eine Schätzung des Schadens und stellt den Umfang einer Beweisaufnahme in das Ermessen des Gerichts. Zu § 287 ZPO folgt demnächst hier auch ein Überblicksartikel.) Hier hatte das Oberlandesgericht gem. § 286 Abs. 1 ZPO zwar festgestellt, dass der Kläger durch den Unfall eine HWS-Distorsion erlitten hatte und ihm deshalb ein Schmerzensgeld zugesprochen. Hinsichtlich der Knieverletzung hatte das Gericht die Klage aber abgewiesen, weil nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen sei, dass diese auf Vorerkrankungen beruhte. Dagegen wendete sich der Kläger mit der Revision und machte geltend, das Gericht hätte hier § 287 Abs. 1 ZPO anwenden müssen, mit der Folge, dass es ausreichend sei, dass die Knieverletzung überwiegend wahrscheinlich auf den Unfall zurückzuführen ist. Denn das Gericht sei ja von einer Haftung dem Grunde nach ausgegangen, wie sich daraus ergebe, dass ein Schmerzensgeld wegen der HWS-Distorsion zugesprochen habe.

Entscheidung

Der BGH hat die Revision zurückgewiesen:

„Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht seiner Beweiswürdigung kein falsches Beweismaß zugrunde gelegt, indem es trotz des von ihm festgestellten Primärschadens in Form einer HWS-Distorsion im Hinblick auf die behauptete zusätzliche Knieschädigung das strenge Beweismaß des § 286 ZPO statt des erleichterten Beweismaßes des § 287 ZPO zugrunde gelegt hat.

a) Bei der Prüfung des Kausalzusammenhangs ist zwischen der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität zu unterscheiden.

Die haftungsbegründende Kausalität betrifft den Kausalzusammenhang zwischen der Verletzungshandlung und der Rechtsgutsverletzung, d. h. dem ersten Verletzungserfolg (Primärverletzung). Insoweit gilt das strenge Beweismaß des § 286 ZPO, das die volle Überzeugung des Gerichts erfordert.

Hingegen bezieht sich die haftungsausfüllende Kausalität auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen der primären Rechtsgutsverletzung und – hieraus resultierenden – weiteren Gesundheitsschäden des Verletzten (Sekundärschäden). Nur hierfür gilt das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO, d. h. zur Überzeugungsbildung kann eine hinreichende bzw. überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen (…).

b) Allerdings hat der Senat im Beschluss vom 14. Oktober 2008 (VI ZR 7/08…) – insoweit die Entscheidung nicht tragend – ausgeführt, die Anwendung des § 287 Abs. 1 ZPO sei nicht auf Folgeschäden einer Verletzung beschränkt, sondern umfasse neben einer festgestellten oder unstreitigen Verletzung des Körpers im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB entstehende weitere Körperschäden „aus derselben Schädigungsursache“, was zumindest zu Missverständnissen Veranlassung geben kann. Soweit dem zu entnehmen sein sollte, dass eine festgestellte unfallursächliche Primärverletzung ausreiche, um alle darüber hinaus behaupteten Verletzungen unabhängig von ihrem Verhältnis zu dieser Primärverletzung in den Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität zu verlagern und damit dem Beweismaß des § 287 Abs. 1 ZPO zu unterstellen, wird hieran nicht festgehalten.

c) Entsprechendes ergibt sich auch nicht aus den im vorgenannten Beschluss vom 14. Oktober 2008 (VI ZR 7/08…) zitierten Senatsentscheidungen, in denen ebenfalls zwischen haftungsbegründender Kausalität einerseits und haftungsausfüllender Kausalität als Folge der jeweiligen Primärverletzung andererseits differenziert wird (wird ausgeführt).

Den vorgenannten Entscheidungen ist gemeinsam, dass die Anwendbarkeit des § 287 ZPO nur insoweit bejaht wurde, als es um die Frage ging, ob eine haftungsbegründende Primärverletzung – wie vom Kläger jeweils geltend gemacht – weitere Gesundheitsbeeinträchtigungen zur Folge hatte. Dies steht im Streitfall jedoch nicht in Rede.

Ob der Kläger im Streitfall durch den genannten Verkehrsunfall neben einer vom Berufungsgericht festgestellten HWS-Distorsion eine Verletzung des linken Knies erlitten hat, ist – entgegen der Auffassung der Revision – keine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, sondern betrifft die Frage, ob der Kläger durch den Unfall eine weitere Primärverletzung in Form einer Knieschädigung erlitten hat. Dies unterfällt – wie das Berufungsgericht richtig gesehen hat – dem Beweismaß des § 286 ZPO. Die Revision zeigt keinen in der Instanz übergangenen Sachvortrag auf, wonach der Kläger geltend gemacht hat, die behauptete Knieschädigung sei Folge der HWS-Distorsion.“

Anmerkung

Das ist in der Sache nichts Neues, aber eine wichtige Klarstellung, zu der sich der Senat offenbar veranlasst sah. Denn er hat - was eher selten ist - die Revision selbst zugelassen, nur um diese Klarstellung treffen zu können und die Revision dann zurückzuweisen. Lesenswert zur Abgrenzung zwischen Primärschaden und Sekundärschaden sind deshalb übrigens auch die vom Senat in den Rn. 15 ff. zitierten Entscheidungen, bei denen die Abgrenzung zwischen Primärverletzung und Sekundärverletzung teils deutlich weniger einfach ist. Offen bleibt m.E. dabei nach wie vor die Frage, welches Beweismaß anzuwenden ist, wenn sich nicht aufzuklären lässt, auf welcher Primärverletzung eine Gesundheitsbeeinträchtigung beruht. tl;dr: Das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO findet Anwendung, soweit es um die Frage geht, ob eine haftungsbegründende Primärverletzung weitere vom Kläger geltend gemachte Gesundheitsbeeinträchtigungen zur Folge hatte (haftungsausfüllende Kausalität). Werden unabhängig davon aus der zugrundeliegenden Verletzungshandlung weitere unfallursächliche Primärverletzungen geltend gemacht, unterfallen diese dem Beweismaß des § 286 ZPO (haftungsbegründende Kausalität). (Leitsatz des BGH) Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil vom 29.01.2019 – VI ZR 113/17. Foto: Tobias Helfrich, Karlsruhe bundesgerichtshof alt, CC BY-SA 3.0