BGH zu den Tücken des Urkundsbeweises

Tobias Helferich wikimedia cc-by-sa 3.0Ein guter Anlass, sich näher mit dem Recht des Urkundenbeweises zu befassen und deshalb wahrscheinlich vor allem für mitlesende Referendarinnen und Referendare interessant ist ein aktueller Beschluss des BGH vom 27.07.2016 – XII ZR 125/14.

In der Entscheidung geht es um die Voraussetzungen der Beweisregel in § 416 ZPO und um die Reichweite der Vermutung des § 440 Abs. 2 ZPO sowie um die Frage, ob der Beweis des Gegenteils zulässig ist.

Sachverhalt

Die Klägerin begehrte - vereinfacht - vom Beklagten Rückzahlung von 75.000 EUR, die sie dem Beklagten in bar übergeben hatte. Der Beklagte verteidigte sich, indem er eine Quittung vorlegte, wonach die Klägerin den Erhalt von 75.000 EUR bestätigte. Die Klägerin wendete gegen diese Quittung ein, tatsächlich habe sie lediglich den Empfang von 750 EUR bestätigt, der Beklagte habe den Quittungstext um zwei Nullen ergänzt und bot dafür Beweis an durch Einholung eines Schriftsachverständigengutachtens.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht begründete seine Entscheidung damit, dass die Quittung als Privaturkunde gem. § 416 ZPO den vollen Beweis dafür erbringe, dass die in der Quittung enthaltene Erklärung von der Klägerin abgegeben sei. Und gem. § 440 Abs. 2 ZPO werde vermutet, dass die über einer Unterschrift stehende Erklärung echt sei. Diese Vermutung sei nur zu entkräften, wenn die Urkunde Mängel i.S.v. § 419 ZPO aufweise. Das sei hier aber nicht der Fall.

Inhalt und Echtheit von Urkunden sind im Zivilprozess eher selten streitig, gestritten wird deutlich häufiger über die Auslegung der in einer Urkunde enthaltenen Parteierklärung oder darüber, ob es über den Inhalt der Urkunde hinausgehende oder vom Inhalt der Urkunde abweichende Vereinbarungen gibt.

Das Recht des Urkundenbeweises gem. §§ 415 ff. ZPO führt daher in der Praxis eher ein Schattendasein und ist aufgrund der Beweisregelungen und Vermutungen nicht ganz einfach zu handhaben.

Das Recht des Urkundenbeweises kennt in §§ 415 ff. ZPO bestimmte Beweisregeln:

  • Die Beweiskraft öffentlicher Urkunden richtet sich nach §§ 415, 417, 418 ZPO (und reicht sehr weit).
  • Die Beweiskraft von Privatkurkunden richtet sich nach § 416 ZPO: Eine unterschriebene Privaturkunde beweist, dass die in der Privaturkunde enthaltene Erklärung von der unterschreibenden Person angegeben worden ist (nicht aber, dass diese Erklärung den Tatsachen entspricht!).

Diese Beweislastregeln setzen aber voraus, dass die Urkunde „echt“ ist; die Erklärung also von der Person stammt, welche die Urkunde unterschrieben hat (vgl. § 267 StGB). Und hinsichtlich der Echtheit von Urkunden kennt die ZPO zwei – gesetzliche – Vermutungen (§ 292 ZPO):

  • Gem. § 437 Abs. 1 ZPO wird die Echtheit öffentlicher Urkunden vermutet, die – vereinfacht – „wie echte behördliche Urkunden aussehen“. (Zweifel kann das Gericht gem. § 437 Abs. 2 ZPO durch Nachfrage bei der Ausstellenden Behörde klären.)
  • Gem. § 440 Abs. 2 ZPO wird bei Privatkurkunden vermutet, dass der Text über einer Unterschrift echt ist, mithin von der unterschreibenden Person stammt (weshalb Blankettunterschriften so gefährlich sind).

Hier erbrachte die Urkunde ihrem Inhalt nach gem. § 416 ZPO den Beweis dafür, dass die Klägerin erklärt hatte, 75.000 EUR erhalten zu haben; die Urkunde konnte als Privaturkunde hingegen nicht i.S.d. § 416 ZPO beweisen, dass die 75.000 EUR tatsächlich gezahlt waren (!). Eine Erklärung der Klägerin, den Betrag erhalten zu haben, dürfte aber im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) ein kaum zu entkräftendes Indiz dafür sein, dass eine solche Zahlung auch tatsächlich erfolgt war. (Die Klägerin hatte auch nicht behauptet, dass sie die Erklärung der Wahrheit zuwider abgegeben hatte, sondern vielmehr, dass sie die Erklärung überhaupt nicht abgegeben hatte.)

Das wiederum setzte aber voraus, dass die Urkunde echt war. Und genau das war zwischen den Parteien streitig. Hier kam nun die Vermutung des § 440 Abs. 2 ZPO ins Spiel: Da die Unterschrift der Klägerin unter der Urkunde (unstreitig) echt war, wurde vermutet, dass auch der Text darüber echt war – mithin eine Erklärung der Klägerin wiedergab. Daher musste die Klägerin beweisen, dass der Beklagte den Text der Urkunde gefälscht hatte (Beweis des Gegenteils, § 292 ZPO). Dazu hatte sie Beweis angeboten durch Einholung eines Schriftsachverständigengutachtens.

Soweit war die Vorinstanz aber gar nicht gekommen: Das OLG war vielmehr davon ausgegangen, dass der Klägerin der Gegenbeweis überhaupt nur bei Mängeln der Urkunde i.S.d. § 419 ZPO möglich sei.

Entscheidung
Das hielt der BGH mit ziemlich knappen Worten für „rechtsfehlerhaft“:

„Den „vollen Beweis“ gemäß § 416 ZPO für die Abgabe der in der Urkunde enthaltenen Erklärung begründet nur die echte Urkunde.

Steht jedoch – wie hier – die Echtheit der Urkunde im Streit, greift lediglich die Vermutung des § 440 Abs. 2 ZPO ein. Diese Vermutung führt dazu, dass die Klägerin in diesem Punkt beweispflichtig ist, nicht aber, dass die Echtheit der Urkunde und damit der darin enthaltenen Erklärung feststeht und deswegen ein Beweisangebot abgelehnt werden dürfte. Somit kann die Klägerin entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht nur äußere Mängel der Urkunde im Sinne von § 419 ZPO anführen, sondern auch den Beweis der Fälschung antreten.

Indem das Berufungsgericht dem Beweisangebot der Klägerin nicht nachgegangen ist, hat es die Klägerin in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt […].“

Anmerkung

Der Fall ist ein gutes Beispiel dafür, dass man das Ergebnis einer juristischen Subsumtion immer einer Plausibilitätskontrolle unterziehen sollte. Konnte es hier wirklich sein, dass die Klägerin eine mögliche Fälschung des Beklagten gegen sich gelten lassen musste, nur weil die Fälschung besonders gut gelungen war (vgl. § 419 ZPO)? Zur „Ehrenrettung“ der Vorinstanzen wird man aber davon ausgehen dürfen, dass diese sich wohl sehr sicher waren, welche von beiden Parteien dabei war, sich wegen (versuchten) Prozessbetruges (und wohl eher nicht wegen Urkundenfälschung) strafbar zu machen (s. dazu auch die erstinstanzliche Entscheidung des LG).

Wer sich vertieft mit der Regelung des § 416 ZPO befassen will, dem sei übrigens dieser Text einschließlich der darin enthaltenen Tabelle von Britz ans Herz gelegt: Wenn man es recht bedenkt, dürfte Britz Recht haben und § 416 ZPO tatsächlich eine Norm ohne jeden sinnvollen Regelungsgehalt sein (ähnlich Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, 1. Aufl.2015, § 93 Rn. 17; ausführlich auch Britz, ZZP 110, 61-+90 (1997); ).

Bemerkenswert ist übrigens auch hier wieder, wie weit der BGH Art. 103 Abs. 1 GG versteht: Ein in jeder Hinsicht „nur“ einfacher materiell-rechtlicher Fehler wird über Art. 103 Abs. 1 GG, § 544 Abs. 7 ZPO zu einem Gehörsverstoß und führt zum Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde, weil infolge des Fehlers ein Beweis nicht erhoben wurde.

tl;dr: 1.) Den „vollen Beweis“ i.S.d. § 416 ZPO erbringt nur eine unstreitig (§ 439 Abs. 3 ZPO) oder erwiesenermaßen (§ 440 ZPO) echte und nicht i.S.d. § 419 ZPO mangelhafte Urkunde. 2.) Der Gegenbeweis gem. § 440 Abs. 2 ZPO setzt nicht voraus, dass die Urkunde mit Mängeln i.S.d. § 419 ZPO behaftet ist.

Anmerkung/Besprechung, BGH, Beschluss vom 27.07.2016 – XII ZR 125/14. Foto: Tobias Helferich | wikimedia | CC BY-SA 3.0