Der BGH und die Glaubwürdigkeit eines Zeugen

Etwas ratlos zurückgelassen hat mich das Urteil des BGH vom 03.06.2014 – VI ZR 394/13, als ich es vor ein paar Wochen zum ersten Mal gelesen habe. Auch bei nochmaligem Lesen vor ein paar Tagen bin ich daraus nicht recht schlau geworden.

Bild des Erbgroßherzoglichen PalaisIn der Sache ging es um den Verkauf von Anteilen einer türkischen Aktiengesellschaft an den Kläger, der wohl unter etwas dubiosen Umständen zustande gekommen war. Der Kläger machte wegen dieses Geschäfts nun Schadensersatzansprüche geltend und behauptete in diesem Zusammenhang, dass der Zeuge S im Rahmen des Verkaufsgesprächs als Mitarbeiter der Beklagten aufgetreten sei. Das Landgericht hatte der Klage stattgegeben, das Oberlandesgericht hatte die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Damit war der BGH aber offenkundig nicht einverstanden. Das Berufungsurteil litt auch einem nicht unwesentlichen Mangel. Denn das Landgericht hatte in seinem Urteil einem dort vernommenen Zeugen eine Aussage zugeschrieben, die sich so aus dem Sitzungsprotokoll nicht ergab. Das wäre an sich noch nicht schädlich gewesen, denn die Beweiskraft des Protokolls bezieht sich nicht auf den Inhalt von Zeugenaussagen oder Parteianhörungen. Das Landgericht hatte aber mit keinem Wort erwähnt, warum es seiner Entscheidung eine Aussage zugrunde legte, die so nicht protokolliert worden war. Dass sich das Berufungsgericht daran gem. § 529 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO gebunden gefühlt hatte, hielt der BGH für rechtsfehlerhaft:

„Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge S. Angaben gemacht hat, die nicht im Protokoll festgehalten sind, sind nicht gegeben und werden auch von Seiten des Klägers nicht geltend gemacht. Soweit die Revisionserwiderung meint, dass sich die Beweiskraft des Protokolls gemäß § 165 ZPO nicht auf den Inhalt von Partei- und Zeugenaussagen erstreckt, trifft dies zu […]. Allerdings genießt das Protokoll die allgemeine Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde (§ 415 ZPO). Der Widerspruch zwischen dem im Protokoll niedergelegten Inhalt der Beweisaufnahme und der Beweiswürdigung des Landgerichts musste danach Zweifel an der Richtigkeit der getroffenen Feststellungen begründen, die das Berufungsgericht hätte ausräumen müssen.“

So weit, so gut. M.E. hätte es der BGH vielleicht dabei belassen können. Denn damit war die Beweiswürdigung ja schon hinfällig. Der BGH führt aber noch weiter aus:

„Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen des Eingangsgerichts waren außerdem aufgrund der von der Beklagten in der Berufungsbegründung vorgebrachten Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen S. gegeben.

Die Beklagte hat mit der Berufung geltend gemacht, der Zeuge S. sei unglaubwürdig, da er seine Aussage auf die für eine Verurteilung wichtige Aussage beschränkt habe, dass eine jederzeitige Rückzahlung möglich sei. Das Landgericht bildete sich seine Überzeugung aufgrund der „glaubhaften Bekundungen des Zeugen S.". Herkömmlich werden bei der Beurteilung von Zeugenaussagen die Begriffe „Glaubhaftigkeit der Aussage" und „Glaubwürdigkeit des Zeugen" unterschieden. Es besteht Einigkeit darüber, den Begriff „Glaubhaftigkeit" auf die Sachdarstellung und den Begriff „Glaubwürdigkeit" auf die Persönlichkeit des Zeugen zu beziehen […]. Auf Darlegungen zur Glaubwürdigkeit des Zeugen S. hat das Landgericht verzichtet. Schon danach hätte das Berufungsgericht Veranlassung gehabt, den Zeugen S. erneut zu vernehmen […]. Hat die erste Instanz von der Würdigung der von ihr vernommenen Zeugenaussagen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen, muss eine Wiederholung der Beweisaufnahme erfolgen, wenn es für die Glaubwürdigkeit der Zeugen auf deren persönlichen Eindruck ankommt und diese sich nicht aus dem Vernehmungsprotokoll ergibt und auch nicht sonst in die Verhandlung eingeführt worden ist […].“

Abgesehen von dem leicht herablassend wirkenden „herkömmlich…“: Ich verstehe nicht, was der BGH mit diesen Ausführungen sagen will. Da der BGH das OLG ja über den Unterschied zwischen Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit schulmeistert, kann sich Glaubwürdigkeit sicher nur auf die „Persönlichkeit des Zeugen“ beziehen.

Dann frage ich mich aber zunächst einmal, was die mit der Berufung geltend gemachte Beschränkung der Aussage auf den Kerninhalt mit der Persönlichkeit des Zeugen zu tun hat. Denn dabei geht es ja gerade um den Inhalt dieser Aussage und damit um die Glaubhaftigkeit. Dass eine solche Beschränkung es schwierig macht, sich von der Richtigkeit der Aussage zu überzeugen dürfte zu den Grundlagen der Aussagepsychologie gehören. Aber das betrifft bekanntlich die Glaubhaftigkeit. Dem VI. Zivilsenat geht es aber ausdrücklich um die Glaubwürdigkeit. Schon insoweit kann ich daher die Ausführungen nicht nachvollziehen.

Es kommt aber noch etwas hinzu. Nämlich dass man sich bei Aussagen zur „Glaubwürdigkeit“ m. E. immer auf ziemlich dünnem Eis bewegt. Das Gericht kann sich im Laufe der kurzen Vernehmung des Zeugen kaum ein zuverlässiges Bild von dessen Persönlichkeit machen. Allein an den sozialen Status anzuknüpfen, dürfte aber glücklicherweise weitgehend überholt sein (auch wenn Zeugen aus diesem Grunde immer noch nach ihrem Beruf gefragt werden). Und die zitierte Fundstelle von Ball im Musielak sagt auch nur, es sei fehlerhaft, wenn das Instanzgericht Ausführungen zur Glaubwürdigkeit des Zeugen mache, der nicht von den erkennenden Richtern vernommen worden sei.

Dass zwingend eine Auseinandersetzung mit der Glaubwürdigkeit erforderlich ist, halte ich daher für bedenklich. Sehr pointiert schreiben dazu z.B. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. 2007, Rn. 214:

„Die „allgemeine Glaubwürdigkeit“ einer Person, ihr lauterer Charakter, ihr guter Ruf und ihre hohe soziale Stellung erlauben keinen allgemeinen Rückschluss auf die Glaubhaftigkeit jener einen Aussage, auf die es im Prozess ankommt. Dasselbe gilt auch umgekehrt; auch charakterlich zweifelhafte Personen können die Wahrheit sagen.“

Das halte ich im 21. Jahrhundert genau so für vollkommen richtig. Und ich bin bislang auch davon ausgegangen, dass das nicht nur Bender/Nack/Treuers (und meine) Ansicht ist. Die Glaubwürdigkeit des Zeugen sollte man m. E. allenfalls dann thematisieren, wenn z.B. aufgrund einer engen Bindung zu einer der Parteien Zweifel an der Aussage bestehen. Davon ist aber im Urteil nicht die Rede, der BGH spricht vielmehr vom „persönlichen Eindruck“.

Und nun frage ich mich, ob der VI. Zivilsenat ernsthaft dahin zurück möchte, dass Gerichte aufgrund des sozialen Status‘ einer Person deren Aussage mehr Bedeutung beimessen. Das mag ich mir irgendwie nicht recht vorstellen.

Update: Aufgrund der Diskussion unterhalb dieses Beitrags und einer Mail eine kurze Klarstellung. Ich meine nicht, dass die Kategorie „Glaubwürdigkeit" überflüssig ist. Nur kann ich kaum etwas erkennen, das geeignet wäre, (positiv) die Glaubwürdigkeit einer Person zu begründen/stützen. Es gibt allerdings sehr viele Umstände, die (negativ) Zweifel an der Glaubwürdigkeit begründen können und mit denen sich das Gericht auseinandersetzen sollte. Wenn das Gericht dann aber keine Ausführungen zur Glaubwürdigkeit macht - wie das OLG Köln - dann ist davon auszugehen, dass das Gericht keine Anhaltspunkte für Zweifel hatte. Und der BGH hat eben auch nichts dazu gesagt, warum das OLG hätte Zweifel haben sollen. Jede positiv die Glaubwürdigkeit begründende „Leerformel" erscheint mir nach dem Vorstehenden aber schlicht überflüssig.

Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil vom 03.06.2014 – VI ZR 394/13. Foto: © Dionysos / www.wikimedia.org