Der BGH und die „Substantiierungsschere“

Um „lästige“ Beweisaufnahmen zu vermeiden, greifen Gerichte nicht selten zur sogenannten „Substantiierungsschere“: Die Beweiserhebung wird abgelehnt (und der Vortrag damit abgeschnitten), weil der dazugehörige Sachvortrag nicht ausreichend substantiiert sei.

Dass das nur in den seltensten Fällen „hält“, hat der BGH mit Urteil vom 21.10.2014 – VIII ZR 34/14 einmal mehr klargestellt.

Sachverhalt

Dem Verfahren zugrunde lag eine Räumungsklage. Nach dem Inhalt des schriftlichen Mietvertrages sollte eine Gewerbefläche zum Betrieb eines Ateliers vermietet sein. Der Vertrag war befristet, sollte sich aber jährlich verlängern, wenn nicht eine der Parteien dem widerspreche. Nachdem die Klägerin dementsprechend der Fortsetzung des Mietverhältnisses widersprochen hatte, berief sich die Beklagte auf die für Wohnungsmietverträge geltenden Kündigungsfristen (§ 573 BGB). Denn entgegen dem Inhalt des schriftlichen Vertrages seien beide Parteien von Anfang an davon ausgegangen, dass die Räume später als Wohnung genutzt würden. Den zum Beweis dieser Tatsache benannten Zeugen hatte das Landgericht erstinstanzlich nicht vernommen. Denn die Beklagte habe nicht ausreichend dargelegt, warum die Parteien einen Gewerbemietvertrag unterzeichnet hätten, wenn doch eigentlich Wohnraum vermietet werden sollte. Das KG hatte die gegen das Urteil gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Entscheidung

Das findet aber – wenig überraschend – nicht die Zustimmung des BGH:

„Das Berufungsgericht hat […] zu strenge Anforderungen an die […] Substantiierung des Vortrags der Beklagten zum Abschluss eines Wohnraummietvertrages gestellt. […]

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts lässt sich die Nichterhebung des angebotenen Zeugenbeweises […] nicht mit einer unzureichenden Substantiierung des Vortrags der Beklagten zu der nach ihrer Darstellung schon im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Gewerberaummietvertragsformulars mündlich erzielten Einigung über eine Umwandlung in ein Wohnraummietverhältnis begründen.

Eine Partei genügt bei einem von ihr zur Rechtsverteidigung gehaltenen Sachvortrag ihren Substantiierungspflichten, wenn sie Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das von der anderen Seite geltend gemachte Recht als nicht bestehend erscheinen zu lassen. Dabei ist unerheblich, wie wahrscheinlich die Darstellung ist und ob sie auf eigenem Wissen oder auf einer Schlussfolgerung aus Indizien beruht […].

Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen, die etwa den Zeitpunkt und den Vorgang bestimmter Ereignisse betreffen, nicht verlangt werden […]. Es ist vielmehr Sache des Tatrichters, bei der Beweisaufnahme die benannten Zeugen nach Einzelheiten zu befragen, die ihm für die Beurteilung der Zuverlässigkeit der Bekundungen erforderlich erscheinen […].

Der Pflicht zur Substantiierung ist mithin nur dann nicht genügt, wenn die unter Beweis gestellten Tatsachen so ungenau bezeichnet sind, dass das Gericht aufgrund ihrer Darstellung nicht beurteilen kann, ob die Behauptung überhaupt erheblich ist, also die gesetzlichen Voraussetzungen der daran geknüpften Rechtsfolge erfüllt sind […].

Nach diesen Maßstäben durfte der Beweisantritt auf Vernehmung des Zeugen […] nicht unberücksichtigt bleiben.

Das Berufungsgericht hat zu Unrecht ergänzenden Vortrag der Beklagten zu den Gründen und den Umständen der nach den Angaben der Beklagten neben dem schriftlichen Vertragsschluss mündlich getroffenen Einigung über die zeitnahe Umwandlung des Mietverhältnisses in eine Wohnraummiete vermisst. Das Berufungsgericht durfte die Erhebung des angebotenen Beweises weder wegen mangelnder Plausibilität der Sachverhaltsschilderung der Beklagten noch wegen unzureichend vorgetragener Tatsachengrundlage ablehnen.

Dem schriftlichen Mietvertrag vom 17. November 1975 kommt zwar als eine über ein Rechtsgeschäft errichtete Privaturkunde die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit zu […]. Zur Widerlegung dieser Vermutung hat die Beklagte aber vorgetragen, dass die Parteien neben dem schriftlichen Mietvertrag über eine Ateliernutzung einen mündlichen Vertrag über eine mit dem Einbau eines Badezimmers einsetzende Wohnraumnutzung geschlossen hätten.

Mit dieser Behauptung ist die Beklagte ihrer Darlegungslast bezüglich der von ihr behaupteten Umwandlung in ein Wohnraummietverhältnis nachgekommen. […]

Die Beklagte hat […] auch einzelne Indizien angeführt, die auf eine solche Absprache hindeuten könnten.

Anders als das Berufungsgericht meint, durfte die Beweiserhebung auch nicht deswegen unterbleiben, weil die Beklagte keine plausible Erklärung dafür geliefert habe, weshalb eine schon bei Abschluss des schriftlichen Mietvertrags über Gewerberäume gewollte baldige Umwandlung in ein Wohnraummietverhältnis in dem Vertragsformular keine Erwähnung gefunden hat und weshalb die damaligen Vertragsparteien den Gewerberaummietvertrag unter Verwendung von Klauseln geschlossen haben, die bei einem Wohnraummietvertrag unwirksam wären.

Denn nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist der Grad der Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung für den Umfang der Darlegungslast regelmäßig ohne Bedeutung […]. Diese Umstände spielen daher in aller Regel erst im Rahmen der tatrichterlichen Würdigung des Prozessstoffs (§ 286 Abs. 1 ZPO) eine Rolle.“

tl;dr: Eine Beweiserhebung darf wegen mangelnder Substantiierung nur unterbleiben, wenn der Vortrag so ungenau ist, dass er eine Subsumtion nicht mehr zulässt. Fragen der Plausibilität oder Wahrscheinlichkeit stehen der Beweiserhebung nicht entgegen, sondern werden erst im Rahmen der Beweiswürdigung relevant.

Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil v. 21.10.2014 – VIII ZR 34/14 Foto: Khara Woods | unsplash.com | CC0