Der Diskussions­entwurf zur Musterfest­stellungsklage: Ein Überblick

Bereits Ende 2016 war ein noch nicht ressortübergreifend abgestimmter Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Musterfeststellungsklage bekannt geworden (s. dazu ausführlich hier), der schließlich aber – wohl am Widerstand des Verkehrsministeriums – gescheitert ist. Nun hat das BMJV einen sog. Diskussionsentwurf veröffentlicht, der einen näheren Blick lohnt. Denn er entspricht zwar in weiten Teilen dem vorherigen Entwurf, bleibt in wichtigen Punkten aber sogar hinter dem inoffiziellen Entwurf zurück.

Hintergrund

Dass im deutschen (Zivil-)Prozessrecht ein Instrument des kollektiven Rechtsschutzes fehlt, um Streuschäden größeren Umfangs durchzusetzen, ist relativ unbestritten; die zu diesem Zweck in § 79 Abs. 2 Ziff. 3 ZPO eingeführte Regelung ist „totes Recht“ geblieben. Die Bundestagsfraktion der Grünen hatte deshalb Anfang 2015 die Einführung einer sog. „Gruppenklage“ vorgeschlagen, die inhaltlich eine klassische Sammelklage (mit opt-in-Möglichkeit) ist und insbesondere auch auf Zahlung bzw. Leistung gerichtet sein kann. Diese Oppositionsinitiative ist jedoch relativ schnell „im Sande verlaufen“ (wobei aber interessant ist, dass die aus dem BMJV stammenden Vorschläge in nicht unerheblichem Maße bei der vorgeschlagenen „Gruppenklage“ Anleihen machen).

Konzeption und wesentlicher Inhalt des Entwurfs…

Kernstück der geplanten Musterfeststellungklage (in den durch die Einführung des FamFG frei gewordenen §§ 606 ff. ZPO) ist die in § 607 ZPO-E geregelte Klagebefugnis. Diese soll in Anlehnung an § 3 Abs. 1 Nr. 1 UKlaG sog. „qualifizierten Einrichtungen“ vorbehalten bleiben, die in der Liste nach § 4 UKlaG oder dem Verzeichnis der Europäischen Kommission nach Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie 2009/22/EG eingetragen sind. Die Musterfeststellungsklage kann – wie der Name schon sagt – nicht auf Leistung gerichtet sein, sondern gem. § 606 ZPO-E nur auf „die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen eines Anspruchs oder Rechtsverhältnisses zwischen Verbrauchern und Unternehmern“. Erforderlich soll außerdem sein, dass die Ansprüche oder Rechtsverhältnisse einer Mindestanzahl von Verbrauchern von den Feststellungszielen abhängen. Die Mindestzahl lässt der Entwurf offen, schlägt hierfür aber Größenordnungen von 10, 50 oder 100 Verbrauchern vor. Ein weiteres wichtiges Element ist das vom Bundesamt für Justiz zu führende Klageregister, das für jedermann einsehbar ist und in das die Musterfeststellungsklage gem. § 608 ZPO-E vom Gericht eingetragen wird. In das Klageregister einzutragen sind im Laufe des Verfahrens auch Terminsbestimmungen, Zwischenentscheidungen, das Musterfeststellungsurteil, Rechtmittel und die Genehmigung und Feststellung der Wirksamkeit eines Vergleichs. Von den Feststellungszielen der Musterfeststellungsklage betroffene Verbraucher können ihre Ansprüche schriftlich oder elektronisch zur Eintragung in das Klageregister anmelden. Die Anmeldung hemmt die Verjährung des von der Feststellung abhängigen Anspruchs. Bereits anhängige Individualklagen werden nach einer Anmeldung gem. § 614 Abs. 2 ZPO-E bis zum Abschluss des Musterfeststellungsverfahrens ausgesetzt. Musterfeststellungsverfahren sollen nach § 71 GVG-E in die ausschließliche Zuständigkeit der Landgerichte fallen; die Landesjustizverwaltungen werden ermächtigt, die Zuständigkeit weiter zu konzentrieren. Eine Übertragung auf den Einzelrichter wird gem. § 611 Abs. 2 ZPO-E ausgeschlossen. Das Musterfeststellungsverfahren selbst folgt weitestgehend den Vorschriften der ZPO, allerdings kommen die §§ 278 Abs. 2-5 ZPO nicht zur Anwendung, so dass insbesondere nicht zwingend eine Güterverhandlung stattfinden muss. Die Anmelder können im Musterfeststellungsverfahren zwar als Zeugen vernommen werden, sind aber im Übrigen von einer Teilnahme ausgeschlossen: Sie können gem. § 611 Abs. 3 ZPO-E weder als Nebenintervenienten beitreten noch kann ihnen der Streit verkündet werden. Wie weit die Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils reicht, lässt § 614 Abs. 1 ZPO-E ausdrücklich offen: Diese soll nach dem Text der geplanten Regelung entweder davon abhängen, dass sich der Anmelder darauf beruft, oder unabhängig davon eintreten, soweit die Entscheidung von den Feststellungszielen abhängt (also von Amts wegen zu berücksichtigen sein?). Die Begründung geht allerdings davon aus, dass die Bindungswirkung davon abhängt, dass sich entweder der Verbraucher oder aber das beklagte Unternehmen darauf beruft. Die Modalitäten eines Vergleichsschlusses sind in § 612 ZPO-E ausführlich geregelt. Ein Vergleich bedarf der Genehmigung des Gerichts, die nur erteilt werden soll, wenn das Gericht den Vergleich „unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes der Musterfeststellungsklage als angemessene gütliche Beilegung der angemeldeten Ansprüche oder Rechtsverhältnisse erachtet“. Der Vergleich wird den Anmeldern zugestellt und erst dann wirksam, wenn innerhalb eines Monats weniger als 30 % der Anmelder ihren Austritt aus dem Vergleich erklären.

… und eine erste Einschätzung

Die Beschränkung der Klagebefugnis auf Verbände und Einrichtungen überzeugt, weil sie das geeignetste Mittel sein dürfte, einen Missbrauch zu verhindern. Nachteilig daran ist zwar, dass die klagebefugten Stellen ein Interesse daran haben könnten, vor allem öffentlichkeitswirksame Musterfeststellungsklagen zu erheben und sich in weniger attraktiven Bereichen u.U. kein Musterkläger finden wird. Eine Öffnung der Muster(-feststellung)-klage für alle Kläger wiederum hätte vermutlich zur Folge, dass insbesondere die für Anwältinnen und Anwälte lukrativsten Musterfeststellungsklagen erhoben würden. Wägt man beide Möglichkeiten gegeneinander ab, scheint die Beschränkung auf bestimmte Einrichtungen, die – wie es der Entwurf nennt – „aufgrund ihrer bisherigen Tätigkeit die Gewähr für eine sachgerechte Aufgabenerfüllung bieten“, tatsächlich die sachdienlichste Lösung. Gänzlich unverständlich ist aber, dass der Diskussionsentwurf hier deutlich hinter dem zuvor zirkulierten Entwurf zurückbleibt. Denn nach dem ersten bekannt gewordenen Entwurf sollten – in Anlehnung an § 3 Abs. 1 Nr. 3 UKlaG – auch die Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern klagebefugt sein, da – so die ursprüngliche Fassung – auch „kleine und mittlere Unternehmen“ von Streuschäden betroffen sind. Dass sich daran in der Zwischenzeit etwas geändert hätte, ist nicht anzunehmen. Eine Begründung für diese Beschränkung ist dem Diskussionsentwurf nicht zu entnehmen. Dass – wie es der DAV in seiner Stellungnahme zum inoffiziellen Entwurf anführt  – die als Prozessgegner in Betracht kommenden Unternehmen ebenfalls in der örtlichen IHK Mitglied sein und die Klageerhebung als Eingriff in die Neutralitätspflicht der Kammer verstehen könnten, scheint ziemlich weit hergeholt. Wenn die Handwerkskammer Hamburg wegen mangelhafter Bohrmaschinen eine Musterfeststellungsklage gegen Bosch betreibt, ist keine Neutralitätspflicht gefährdet. Dass – was der DAV ebenfalls kritisiert – die Einrichtungen dafür nicht finanziell ausreichend ausgestattet sind, mag richtig sein, wäre aber nur ein Anlss, dies zu ändern. Die einzig sinnvolle Begründung für diese Einschränkung (und wohl auch für die Veröffentlichung des Entwurfs) scheint der bevorstehende Bundestagswahlkampf zu sein, in dem die Musterfeststellungsklage gerade die Verbraucherschutzkompetenz der SPD herausstreichen soll. Die Interessen von KMU würden da vielleicht nur stören. Nach wie vor nicht überzeugend geregelt ist die Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils. Die ursprüngliche Fassung des Entwurfs bestimmte insoweit, dass die Bindungswirkung davon abhängen sollte, dass sich der Verbraucher auf die Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils beruft. Nun lässt der Entwurf dies offen bzw. widerspricht sich. Die Musterfeststellungsklage wird aber nur dann ein Erfolg werden, wenn die Bindungswirkung davon abhängt, dass sich der Anmelder oder das beklagte Unternehmen auf die Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils beruft. Denn nur dann hat das beklagte Unternehmen ein Interesse daran, auf eine zeitnahe Beendigung des Verfahrens hinzuwirken. Ist durch ein (teilweise) klageabweisendes Urteil nichts gewonnen, ergibt sich aus Sicht der beklagten Unternehmen ein Anreiz, das Verfahren jedenfalls so lange zu verzögern, bis die Ansprüche der nicht angemeldeten Betroffenen verjährt sind. Dass ein klageabweisendes Musterfeststellungsurteil auch ohne ausdrückliche Bindungswirkung faktisch „Präzedenzwirkung entfalten würde“, wie die Begründung meint, darf bezweifelt werden. Denn auch im Musterfeststellungsverfahren gelten die Verspätungsregelungen der § 296 Abs. 1 und 2 ZPO. Diese können zur Abweisung der Musterfeststellungsklage führen, ohne dem Erfolg einer Individualklage entgegenzustehen. Außerdem zeigen gerade  die aktuellen Enthüllungen des Spiegel im Hinblick auf die Zusammenarbeit vieler deutscher Fahrzeugherstelle, dass auch nach Abschluss des Musterfeststellungsverfahrens Dokumente des beklagten Unternehmens auftauchen können, aufgrund derer sich die Beweislage plötzlich vollständig anders darstellt. Im Hinblick auf die gerade dargestellte Interessenlage sind auch und gerade die Regelungen zum Vergleichsschluss misslungen. Auch hier gilt, dass ein Vergleich für die Unternehmen nur dann attraktiv ist, wenn sie mit einem Vergleich Planungssicherheit erreichen können. Gerade das verhindern aber die unnötig komplizierten und „anmelderfreundlichen“ Regelungen des § 612 ZPO-E. Dass der Vergleich einer gerichtlichen Billigung bedarf, mag dabei durchaus sinnvoll sein. Dass den Anmeldern die Möglichkeit eingeräumt wird, binnen eines Monats aus dem Vergleich „auszutreten“, ist hingegen völlig kontraproduktiv. Denn die Vergleichsverhandlungen werden so durch ein erhebliches Unsicherheitsmoment unnötig belastet. Ob das Gericht den Vergleich billigen wird, wird sich unproblematisch und informell klären lassen. Ob genügend Anmelder den Vergleich gegen sich gelten lassen werden, wird hingegen nur schwer einzuschätzen sein. Die Unternehmen werden deshalb vorsichtig sein, zu große Zugeständnisse zu machen (die ihnen später u.U. später als „Schuldeingeständnis“ ausgelegt werden). Und die „qualifizierten Einrichtungen“ werden hoch pokern müssen. Denn wer lässt sich schon gerne nachsagen, er habe so schwach verhandelt, dass die Anmelder den Vergleich nicht annehmen wollten? Diese Unsicherheit ist aufgrund der anderen verfahrensrechtlichen Sicherungen auch unnötig. Wie der Entwurf selbst annimmt, bieten einerseits die klagebefugten Stellen „aufgrund ihrer bisherigen Tätigkeit die Gewähr für eine sachgerechte Aufgabenerfüllung“. Und andererseits muss der Vergleich vom Gericht  – wenn auch durch unanfechtbaren Beschluss – gebilligt werden. Beide misslungenen Regelungen (Bindungswirkung und Vergleich) sind auch keinesfalls zwingend, insbesondere nicht unter dem Aspekt des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Denn die Teilnahme am Musterfeststellungsverfahren ist freiwillig; Individualklagen bleiben ohne Beschränkung zulässig. Das Verfahren soll vielmehr gerade dann Rechtsschutz eröffnen, wenn die Betroffenen anderenfalls durch ihr rationales Desinteresse von einer gerichtlichen Geltendmachung abgehalten werden. Diese erhalten durch das Musterfeststellungsverfahren ohne großen Aufwand u.U. einen erheblichen – auch finanziellen – Vorteil. Dass damit im Interesse der Rechtssicherheit Einschränkungen einhergehen, dürfte im Gegenzug hinzunehmen sein. Foto: Beek100 | Berlin, Mitte, Mohrenstraße, Mohrenkolonnaden 01 | CC BY-SA 3.0