Die Bindung des Berufungsgerichts an erstinstanzliche Feststellungen

In einer der letzten NJW (NJW 2014, 1642 ff.) findet sich ein Aufsatz von RA Prof. Dr. Hirtz, der sich vor dem Hintergrund einer Entscheidung des BGH (VI ZR 110/13) mit der Frage befasst, ob und inwieweit das Berufungsgericht an die tatsächlichen Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts gebunden ist.

Hirtz vertritt die These, dass es eine Bindung des Berufungsgerichts an die erstinstanzlichen Feststellungen gar nicht gebe. Diese begründet er – zusammengefasst – wie folgt: Hat das Berufungsgericht keine Zweifel an den erstinstanzlichen Feststellungen, stellt sich die Frage der Bindungswirkung nicht. Hat das Gericht aber Zweifel – und kommt es daher auf die Bindungswirkung an –, dann greift § 529 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO und das Berufungsgericht ist frei darin, die Tatsachen eigenständig festzustellen.

Das klingt auf den ersten Blick sehr einleuchtend und logisch. Hirtz sucht sich für sein „Gefecht“ gegen die Bindungswirkung m.E. aber die falsche Seite des Problems.

Dass das Berufungsgericht die erstinstanzliche Beweiswürdigung nicht nur auf Verfahrensfehler (wie in der Revision) sondern insgesamt überprüfen darf, dürfte inzwischen ausdiskutiert sein. Sofern das erstinstanzliche Urteil daher Beweise erhebt und würdigt, ist Hirtz zuzustimmen: Die Frage der Bindungswirkung stellt sich dann wohl nur äußerst selten.

Aus dieser Argumentation den Schluss zu ziehen, es gebe keine Bindungswirkung, halte ich aber für gefährlich. Denn das erstinstanzliche Urteil entfaltet nach ganz überwiegender Ansicht sehr wohl eine Bindungswirkung, nämlich soweit es Feststellungen nicht aufgrund richterlicher Überzeugungsbildung (d.h. einer Beweiserhebung) trifft, sondern den Sach- und Streitstand wiedergibt (so ausdrücklich BGH, Urteil vom 8.11.2007 - I ZR 99/05 [Rn. 15], anders das vereinzelt gebliebene Urteil des OLG Saarbrücken vom 19. 2. 2003 – 1 U 653/02 sowie Rixecker, NJW 2004, 705, 708)

Teilweise wird diese Bindungswirkung ebenfalls auf § 529 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO gestützt, da diese Vorschrift auch die sog. „tatbestandlichen Feststellungen“ umfasse (so jüngst das OLG München in einem hier besprochenen Urteil vom 23.05.2014 - 10 U 4493/13, ebenso Musielak/Ball, 11. Aufl. 2014, § 529 Rn. 2, 6; Prütting/Gehrlein/Oberheim, § 529 Rn. 6; BeckOK-ZPO/Wulf, § 529 Rn. 6). „Zweifel“ i.S.d. § 529 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO sollen sich wegen § 314 ZPO nur dem Tatbestand, den Entscheidungsgründen oder dem Sitzungsprotokoll ergeben können, nicht aber aus schriftsätzlichem Vorbringen.

Überzeugender dürfte es sein, diese Bindungswirkung unmittelbar aus § 314 ZPO herzuleiten (so so ausdrücklich BGH, Urteil vom 8.11.2007 - I ZR 99/05 [Rn. 15], Stein/Jonas/Althammer, § 529 Rn. 7, Hk-Wöstmann, § 529 Rn. 2; Gaier, NJW 2004, 110, 112).

Unabhängig von der genauen Verortung gilt aber: Ist der Sach- und Streitstand im Tatbestand oder den Entscheidungsgründen falsch widergegeben (weil z.B. Streitiges als unstreitig dargestellt oder Vortrag inhaltlich verfälscht wird), muss diese Unrichtigkeit zwingend mit dem Tatbestandsberichtigungsantrag gem. § 320 ZPO geltend gemacht werden (s. neben der oben genannten Entscheidung des OLG München z.B. auch OLG Karlsruhe, Urteil vom 20.2.2003 – 12 U 210/02 und die ganz überwiegende Meinung in der Literatur).

Wird dies versäumt, kann in der Berufungsinstanz die Unrichtigkeit dieser Feststellungen nicht mehr unter Hinweis auf die Vorbereitenden Schriftsätze geltend gemacht werden (s. BGH, Urteil vom 8.11.2007 - I ZR 99/05 [Rn. 15]). Das Berufungsgericht kann seiner Entscheidung dann keine anderen Tatsachen zugrunde legen, als sich aus dem erstinstanzlichen Tatbestand ergeben.