Die Ermittlung ausländischen Rechts im einstweiligen Rechtsschutz

Die Anwendung ausländischen Rechts durch deutsche Gerichte war bereits Thema hier im Blog, so zur Frage der Revisibilität ausländischen Rechts, zu den Anforderungen an die richterliche Ermittlung des ausländischen Rechts und zur Frage, ob das Gericht bei stillschweigendem Einverständnis der Parteien nicht einfach deutsches Sachrecht anwenden kann. Ausländisches Recht nimmt im deutschen Zivilprozessrecht gleichsam eine Zwitterstellung zwischen Rechtssatz und Tatsache ein: Einerseits wird nach § 293 ZPO ausnahmsweise ein Teilbereich der rechtlichen Urteilsgrundlagen dem Beweisrecht unterstellt, obgleich Rechtsfragen grundsätzlich nicht beweisfähig und beweisbedürftig sind. Anderserseits bleiben die so ermittelten ausländischen Rechtsnormen für den deutschen Richter Rechtssätze, sie werden nicht zu Tatsachen (MüKoZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, ZPO § 293 Rn. 1). Das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 12. September 2019 – 15 U 48/19 kommt zwar zu dem Ergebnis, dass deutsches Recht anwendbar ist, setzt sich aber in einer praxisrelevanten Fallkonstellation, nämlich der Internetwerbung, exemplarisch mit der Bestimmung des anwendbaren Rechts und dessen Ermittlung auseinander.

Sachverhalt

Der Geschäftsführer der – offenbar US-amerikanischen - Verfügungsbeklagten zu 2., eines Unternehmens für Zigarettenpapier für selbstgedrehte Zigaretten – vom Oberlandesgericht als Eindrehpapier bezeichnet - hatte sich in Videobotschafter in englischer Sprache auf seinem weltweit abrufbaren Instagram-Account, negativ über Eindrehpapiere von Wettbewerbern geäußert. Die Verfügungsbeklagte zu 1. verwies auf ihren auch in Deutschland erhältlichen Produktverpackungen mit einem Hashtag auf diesen Instagram-Account. Im Wege der einstweiligen Verfügung begehrte der Verfügungskläger, ein Branchenverband, die Unterlassung der negativen Äußerungen auf dem Instagram-Account des Verfügungsbeklagten. Das Landgericht Mönchengladbach hatte den Antrag auf Erlass dieser Unterlassungsverfügung, so lässt sich dem Urteil des Oberlandesgerichts entnehmen, mit der Begründung zurückgewiesen, auf den Sachverhalt sei deutsches Recht nicht anwendbar. Hinsichtlich des Verfügungsbeklagten zu 2. hatte sich das Landgericht nicht für international zuständig gehalten. Die hiergegen gerichtete Berufung hatte ganz überwiegend Erfolg.

Hintergrund

In wettbewerbsrechtlicher Sicht enthält die Entscheidung ebenfalls interessante Ausführungen zu den Fragen der kollektiven Verunglimpfung von Konkurrenzprodukten, zur wettbewerbsrechtlichen Relevanz von Aussagen in englischer Sprache und der Klagebefugnis eines Verbands nach § 8 Abs. 3 S. 2 UWG. Diese sind jedoch nicht Gegenstand dieser Besprechung (siehe hierzu z.B. Weichhaus, GRUR-Prax 2019, 539 mit missverständlicher Formulierung zur „Anwendbarkeit internationalen Rechts“).

Entscheidung

Das Oberlandesgericht begründet zunächst die Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach § 14 Abs. 2 S. 1 UWG, dem so genannten „fliegenden Gerichtsstand“, auch hinsichtlich des nicht in einem EU-Mitgliedstaat oder in einem Vertragsstaat des Luganer Abkommens, sondern offenbar in den USA ansässigen Verfügungsbeklagten zu 2. Es begründet sodann, weswegen im konkreten Fall die Äußerungen auch auf den deutschen Markt bezogen sind:

„Eine bloße Abrufbarkeit des Internetangebots in Deutschland ist daher noch nicht ausreichend. (…) Ist die Information allerdings auch zum Abruf in Deutschland bestimmt, so ist die Zuständigkeit deutscher Gerichte begründet (..). Dass in Rede stehende Äußerungen in (einfachem) Englisch abgefasst sind, steht einer bestimmungsgemäßen Ausrichtung auch auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht entgegen (…). Bei einem deutschen Durchschnittsverbraucher können demnach Grundkenntnisse der englischen Sprache vorausgesetzt werden. In Anbetracht dieser Kriterien rügt der Verfügungskläger zu Recht, dass das Landgericht vorliegend einen Begehungsort in der Bundesrepublik Deutschland rechtsfehlerhaft verneint hat. Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass sich das streitgegenständliche Video des Verfügungsbeklagten zu 2) bestimmungsgemäß auf den inländischen Markt auswirken sollte und diese Auswirkung demzufolge nicht bloße Folge der weltweiten (und damit auch in Deutschland gegebenen) Abrufbarkeit von Internetpublikationen ist. Die Verfügungsbeklagten wollen ihre Interessenten nicht etwa nur exklusiv über die Webseite der in Deutschland ansässigen Verfügungsbeklagten zu 1) bzw. über deren eigenen Instagram-Account über ihre Produkte informieren, sondern auch das vom Verfügungsbeklagten zu 2) produzierte und in das Internet gestellte Video sollte bestimmungsgemäß der Bewerbung von „A“-Produkten jedenfalls auch in Deutschland dienen.“

Das Oberlandesgericht kommt sodann zur Frage des anwendbaren Rechts und zur Ermittlung ausländischen Rechts. Es findet deutliche Worte für die Entscheidung des Landgerichts:

„Selbst wenn dem Landgericht darin zu folgen wäre, dass - wie nicht - vorliegend kein deutsches (Wettbewerbs-)Recht anwendbar sei, könnte das allein mitnichten die Zurückweisung der Verfügungsanträge tragen. Auf der Basis seiner Rechtsauffassung hätte das Landgericht vielmehr in Anwendung des Internationalen Privatrechts klären müssen, welches andere nationale Recht anzuwenden wäre. Das Landgericht hat außer Acht gelassen, dass ausweislich des § 293 ZPO das in einem anderen Staate geltende Recht grundsätzlich keines Beweises bedarf. Ein Gericht hat anerkanntermaßen auch im Anwendungsbereich des § 293 ZPO das anzuwendende Recht von Amts wegen zu ermitteln (…). Diese Pflicht zur Ermittlung des anwendbaren Rechts gilt auch im einstweiligen Rechtsschutz; lässt sich der Inhalt des einschlägigen ausländischen Rechts aufgrund der Eilbedürftigkeit im Einzelfall (ausnahmsweise) nicht einmal summarisch ermitteln, ist hilfsweise deutsches Recht anzuwenden (…). Demzufolge hätte sich das Landgericht hier keineswegs mit der Feststellung begnügen dürfen, dass kein deutsches Recht anwendbar sei. Die Verletzung dieser Ermittlungspflicht ist ein Verfahrensfehler, der die Parteien in ihrem Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzen und folglich (zumindest in einem Hauptsacheverfahren) unter den Voraussetzungen des § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens die Zurückverweisung an die Vorinstanz rechtfertigen kann (…).“

Schließlich bestimmt das Oberlandesgericht Düsseldorf nach Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO das anwendbare Recht und kommt zu dem Ergebnis, dass das Landgericht Mönchengladbach auch bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts falsch lag: Da das Video des Verfügungsbeklagten zu 2. sich auf den deutschen Markt auswirkte, war nach dieser Norm auch deutsches Recht anwendbar:

„Die Regel des Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO ist nicht als Ausnahme, sondern als Präzisierung der allgemeinen Regel des Art. 4 Rom II-VO zu verstehen (…), so dass grundsätzlich auch die Anwendung des Art. 4 Abs. 2, Abs. 3 Rom II-VO ausgeschlossen ist (Umkehrschluss aus Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO). Sonach ist der Ort der „Beeinträchtigung“ als Ort des „Schadenseintritts“ iSd Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO anzusehen. Dementsprechend ist das Recht des Staates anzuwenden, in dessen Gebiet sich die Beeinträchtigung der Wettbewerbsbeziehungen oder der kollektiven Verbraucherinteressen ereignet oder ereignen kann. Zu einer Beeinträchtigung kommt es, wenn der Handelnde in unlauterer Weise auf die Mitbewerber oder die Marktgegenseite einwirkt. Maßgebend ist also der Ort, an dem diese Einwirkung stattfindet (…). Dementsprechend ist bei einer Werbemaßnahme maßgebend, auf welchen Markt selbige ausgerichtet ist (…).“

Das Berufungsurteil korrigiert daher das erstinstanzliche Urteil sowohl hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit als auch hinsichtlich des anwendbaren Rechts.

Anmerkung

Die als obiter dictum angesprochene Lösung, hilfsweise auf deutsches Recht zu rekurrieren, wenn sich das ausländische Recht nicht ermitteln lässt, ist in Deutschland von der Rechtsprechung entwickelt worden (siehe BGH, Beschluß vom 26.10.1977 - IV ZB 7/77; Urteil vom 23.12.1981 - IV b ZR 643/80). In anderen Rechtsordnungen, so bei unserem deutschsprachigen Nachbarn, ist sie im Gesetz verankert. § 4 Abs. 2 österreichisches IPRG lautet: „Kann das fremde Recht trotz eingehendem Bemühen innerhalb angemessener Frist nicht ermittelt werden, so ist das österreichische Recht anzuwenden“. Ganz ähnlich formuliert es der Schweizer Gesetzgeber: „Ist der Inhalt des anzuwendenden ausländischen Rechts nicht feststellbar, so ist schweizerisches Recht anzuwenden“ (Art. 16 Abs. 2 schweizerisches IPRG). Diese Lösung trägt dem Umstand Rechnung, dass es sich bei der Ermittlung ausländischen Rechts - der Anwendung der Beweisvorschriften ungeachtet - eben nicht um eine Tatsachenfrage handelt, mit der Folge, dass bei Nichtermittelbarkeit des ausländischen Rechts von einem „non liquet“ auszugehen und über die Beweislastnormen zu entscheiden wäre. Da es sich um eine Rechtsfrage handelt, muss das Gericht zu einer Entscheidung kommen. Das auf der Basis des eigenen Rechts zu tun, ist die pragmatischste Lösung. In der Literatur werden zwar auch andere rechtsvergleichende oder kollisionsrechtliche Lösungen vorgeschlagen (siehe hierzu MüKoZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, ZPO § 293 Rn. 61-63), die aber in der richterlichen Praxis nicht praktikabel sein dürften.

Praxishinweis

Auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist es Parteisicht angezeigt, bei Sachverhalten mit Auslandsbezug zum anwendbaren Recht und – sollte das nach Auffassung der Parteien nicht deutsches Recht sein – auch zum Inhalt des ausländischen Rechts vorzutragen. Das gilt generell, da das ausländische Recht nicht revisibel ist. Parteivertreter müssen daher in der Tatsacheninstanz alle verfügbaren Erkenntnisquellen in den Prozess einführen oder aber jedenfalls benennen. Eine Aufhebung durch den Bundesgerichtshof kommt nur in Frage, wenn es der Revision oder Rechtsbeschwerde gelingt, darzulegen, dass es Rechtsquellen gibt, die der Tatrichter hätte heranziehen können, er aber pflichtwidrig davon abgesehen hat, sie heranzuziehen.

tl;dr: Auch im einstweiligen Verfügungsverfahren muss das Gericht gemäß § 293 ZPO das anwendbare ausländische Recht von Amts wegen ermitteln und darf daher den Antrag nicht etwa mit der Begründung zurückweisen, dass kein deutsches Recht anwendbar sei. Lässt sich im Eilverfahren der Inhalt des ausländischen Rechts nicht einmal summarisch ermitteln, ist der Fall äußerst hilfsweise nach deutschem Recht zu entscheiden.

Anmerkung/Besprechung, OLG Düsseldorf, Urteil vom 12.09.2019 – 15 U 48/19