„Hinweise“ der Gegenseite lassen die Hinweispflicht des Gerichts nicht entfallen

Immer wieder ist in Entscheidungen zu lesen, dass ein eigentlich gem. § 139 Abs. 1 oder 2 ZPO gebotener Hinweis entbehrlich sei, weil die betroffene Partei bereits durch den Prozessgegner „die gebotene Unterrichtung erhalten“ habe oder „über die Rechtslage unterrichtet war“ (s. aus jüngerer Zeit beispielsweise OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 22.05.2017 – 23 U 130/16 und Beschluss vom 15.02.2018 – 3 U 176/15; OLG Köln, Beschluss vom 31.07.2017 – 9 U 48/17; BPatG, Beschluss vom 22.03.2018 – 25 W (pat) 548/17 Rn. 16, LAG Hannover, Urteil vom 20.05.2015, 2 Sa 944/14 Rn. 204 und besonders deutlich OLG Schleswig, Beschluss vom 03.02.2014 – 5 U 94/13). Zum „Beleg“ für diese These wird neben sinnentstellend zitierten Kommentarfundstellen häufig sogar der Bundesgerichtshof „in Geiselhaft“ genommen, namentlich dessen Beschluss vom 20.12.2007 zum Aktenzeichen IX ZR 207/05.

Aber so häufig auch die These wiederholt wird, Hinweise des Gegners ersetzten gerichtliche Hinweise: Sie wird dadurch nicht überzeugender und auch nicht richtiger. Und sie findet vor allem in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine Stütze, ganz im Gegenteil: Der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist bei Lichte besehen das genaue Gegenteil zu entnehmen.

Die Hinweispflichten gem. § 139 Abs. 1 und 2 ZPO

§ 139 ZPO normiert eine Vielzahl verschiedener Hinweispflichten; relevant in diesem Zusammenhang sind aber insbesondere Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2.

  • Gem. Abs. 1 Satz 2 hat das Gericht durch Hinweise „dahin zu wirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und die sachdienlichen Anträge stellen“.
  • Gem. Abs. 2 muss das Gericht eine Partei auf einen Gesichtspunkt hinweisen, „den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat“, wenn dieser für die Entscheidung relevant ist.

Dabei, und das ist für das Verständnis der Hinweispflicht maßgeblich, geht das Gesetz stillschweigend davon aus, dass sich die „hinweisbedürftige“ Partei (bzw. ihr Prozessbevollmächtigter) in einem Rechtsirrtum befindet. Das ergibt sich zwar eindeutig nur aus Absatz 2; im Rahmen von Absatz 1 kann aber nichts anderes gelten (vgl. BGH, Beschluss vom 18.05.2017 – I ZR 178/16 Rn. 12; MünchKommZPO/Fritsche, § 139 Rn. 2, 5, 9 und passim; Musielak/Voit/Stadler, § 139 Rn. 16; BeckOK-ZPO/von Selle, § 139 Rn. 3.1, 21). Denn ein Hinweis des Gerichts ergibt nur Sinn, wenn die Partei dadurch vor den Folgen eines Irrtums geschützt werden soll. Befindet sich die Partei nicht in einem Irrtum, weil sie beispielsweise bewusst Vortrag zurückhält (für ein Beispiel s. hier) oder ihren Vortrag schlicht nicht ergänzen kann, läuft ein Hinweis gem. § 139 Abs. 1 oder 2 ZPO leer und kann keinen Zweck erfüllen. Ist deshalb ersichtlich, dass es an einem Irrtum der „hinweisbedürftigen“ Partei fehlt, muss § 139 Abs. 1 und 2 ZPO teleologisch dahingehend reduziert werden, dass die Hinweispflicht entfällt oder eine Verletzung der Hinweispflicht jedenfalls folgenlos bleibt, wie Rensen (MDR 2008, 1075, 1077) überzeugend nachgewiesen hat.

Gleichwertigkeit von „Hinweisen“ des Prozessgegners?

Nach der eingangs dargestellten Ansicht soll die Hinweispflicht aber schon entfallen (wohl ebenfalls im Wege einer teleologischen Reduktion) wenn die Partei nur einen „Hinweis“ der Gegenseite erhalten hat. Dass das in dieser Allgemeinheit nicht richtig sein kann und „Hinweise“ des Prozessgegners nicht ohne Weiteres einen Hinweis des Gerichts ersetzen können, ergibt sich jedoch schon aus den völlig unterschiedlichen prozessualen Rollen: Die „hinweisbedürftige“ Partei darf zu Recht annehmen, dass der Gegner völlig andere Interessen verfolgt und allein deshalb anderer Ansicht ist (so ausdrücklich auch Nober/Ghassemi-Tabar: NJW 2017, 3265, 3266; ebenso Rensen, MDR 2006, 366, 367). Aufgrund dieser erkennbar anderen Interessenlage muss die betroffene Partei rechtlichen Ausführungen und „Hinweisen“ des Gegners nicht die gleiche Bedeutung beimessen, wie Hinweisen des Gerichts. Und gerade Schlüssigkeitsrügen gehören bei vielen Anwältinnen und Anwälten scheinbar zum zwingend notwendigen Inhalt einer Klageerwiderung. (Ob es prozesstaktisch klug ist, die klagende Partei auf die Unschlüssigkeit ihres Vortrags hinzuweisen, steht im Übrigen auf einem anderen Blatt).

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

Der Bundesgerichtshof hat sich in mehreren Entscheidungen seit der ZPO-Reform 2001 und der damit verbundenen Neufassung des § 139 ZPO mit der Frage befasst, wann ein „Hinweis“ der Gegenseite einen gerichtlichen Hinweis entbehrlich macht. Dabei fordert er im Ergebnis nicht allein einen „Hinweis“ der Gegenseite, sondern zusätzlich, dass die Partei den „Hinweis“ auch verstanden hat (s. auch Seibel, ZfBR 2009, 533, 537, ebenso z.B. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13.07.2015 – 1 U 164/14 Rn. 7 aE; LG Stuttgart, Urteil vom 01.06.2016 – 10 S 2/16, Rn. 26). Dies wird vom I. und IX. Zivilsenat dahin formuliert, dass ein Hinweis entbehrlich ist, „wenn die betroffene Partei infolge eines eingehenden, von ihr richtig erfassten Vortrags der gegnerischen Partei zutreffend über die Sach- und Rechtslage unterrichtet war“ (so BGH, Beschluss vom 20.12.2007 – IX ZR 207/05 und jüngst Beschluss vom 18.05.2017 – I ZR 178/16, Hervorhebung durch mich). Will man sprachlich feinsinnig sein, ist es also nicht entscheidend, ob die Partei von der Gegenseite über die Rechtslage „unterrichtet wurde“, sondern ob sie über die Rechtslage „unterrichtet war“. Letzteres lässt sich aber ersichtlich nicht allein deshalb bejahen, weil die Gegenseite zu einem bestimmten Punkt Ausführungen gemacht hat. Bejaht hat der Bundesgerichtshof diese Voraussetzung deshalb in jüngerer Zeit nur in Fällen, in denen aus dem Prozessverhalten der „hinweisbedürftigen“ Partei ersichtlich war, dass sie den „Hinweis“ der Gegenseite zur Kenntnis genommen und richtig verstanden hat (s. beispielsweise den vielfach zitierten Beschluss vom 20.12.2007 – IX ZR 207/05; ebenso Urteil vom 22. 11. 2006 – VIII ZR 72/06 Rn. 19 und Beschluss vom 14.09.2017 – IX ZB 81/16 Rn. 11).

Fazit

Und hier schließt sich der Kreis zur oben dargestellten teleologischen Reduktion des § 139 Abs. 1 und 2 ZPO: Denn wenn eindeutig ist, dass die betroffene Partei den „Hinweis“ der Gegenseite richtig verstanden hat (also über die Sach- und Rechtslage unterrichtet war), befindet sie sich nicht länger in einem Irrtum. Ein Hinweis des Gerichts könnte deshalb in diesen Fällen seinen Zweck nicht erfüllen und ist deshalb in diesen Fällen in der Tat entbehrlich – aber nicht aufgrund des „Hinweises“ der Gegenseite, sondern aufgrund des fehlenden Irrtums der Partei. Reagiert die Partei hingegen auf den „Hinweis“ der Gegenseite nicht und sind sonst keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sich die Partei nicht in einem Irrtum befindet, ist für eine teleologische Reduktion des § 139 ZPO kein Raum.

Ganz vielen Dank übrigens an Oliver Löffel, der mich auf mehrere der eingangs zitierten Entscheidungen hingewiesen hat!

tl;dr: Ein „Hinweis“ des Gegners macht einen Hinweis des Gerichts nicht entbehrlich. § 139 Abs.  1 und 2 ZPO sind allerdings teleologisch zu reduzieren, wenn sich die Partei erkennbar nicht im Irrtum über die Rechtslage befindet, weil ein Hinweis dann seinen Zweck nicht erkennen kann.

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