BGH zur Reichweite der Rechtskraft bei Klage und Widerklage

Wie begrenzt im deutschen Zivilprozessrecht die materielle Rechtskraft ist, war hier im Blog schon wiederholt Thema. In einer verkehrsrechtlichen Konstellation hat sich der Bundesgerichtshof kürzlich mit Urteil vom 15.06.2021 –VI ZR 1029/20 mit dieser Frage befasst. In der Entscheidung geht es außerdem noch um die formalen Anforderungen an ein Berufungsurteil.

Sachverhalt

Der Sachverhalt ist ein verkehrsrechtlicher Klassiker: Der Kläger nahm die Beklagten zu 1-3 (Haftpflichtversicherer, Halter, Fahrer) nach einem Verkehrsunfall auf Schadensersatz in Anspruch. Mit seiner Widerklage und Drittwiderklage verlangt der Beklagte zu 2 vom Kläger und dessen Haftpflichtversicherung seinerseits Schadensersatz aufgrund des selben Verkehrsunfalls. Das Amtsgericht ist von jeweils hälftigen Verursachungsbeiträgen ausgegangen und hat die Parteien jeweils hälftig verurteilt und Klage und Widerklage im Übrigen abgewiesen. Die Entscheidung über die Klage ist rechtskräftig geworden. Die gegen die teilweise Abweisung der Widerklage eingelegte Berufung der Beklagten zu 2 und 3 hat das Landgericht zurückgewiesen. Zwar stehe zur Überzeugung des Berufungsgerichts fest, dass der Kläger den Unfall allein verursacht habe (und die Widerklage und Drittwiderklage daher in vollem Umfang Erfolg haben müssten). Aufgrund der Rechtskraft der Entscheidung über die Klage sei das Berufungsgericht jedoch an die Feststellung des Amtsgerichts gebunden, wonach der Unfall von beiden Fahrzeugen anteilig verursacht worden sei und kein unabwendbares Ergebnis vorliege. Dagegen wenden sich die Beklagten zu 2 und 3 mit ihrer vom Landgericht zugelassenen Revision.

Die prozessuale Ausgangslage von Klage, Widerklage und Drittwiderklage könnte so ohne Weiteres in einer Klausur im Assessorexamen vorkommen und sollte – wenn sie nicht vertraut erscheint – unbedingt wiederholt werden. Das hier im Kern der Entscheidung stehende rechtliche Problem ergab sich daraus, dass gegen das Urteil des Amtsgerichts nur teilweise Berufung eingelegt worden war. Hier konnte sowohl die Entscheidung über die Klage von beiden Seiten mit der Berufung angegriffen werden (wegen des teilweisen Unterliegend vom Kläger und wegen der teilweisen Verurteilung durch die Beklagten) als auch die Entscheidung über die Widerklage (wegen des teilweisen Unterliegens durch den Widerkläger und wegen der teilweisen Verurteilung durch den Kläger und die Widerbeklagte). Berufung hatten aber nur die Beklagten zu 2 und 3 eingelegt und auch nur insoweit, als die Widerklage zur Hälfte abgewiesen worden war. (Das ergibt aus Sicht des Beklagten zu 3 keinen Sinn, weil dieser ja gar keine Widerklage erhoben hatte, dazu sogleich). Nun stellte sich aber die Frage, ob das Berufungsgericht überhaupt anders entscheiden durfte als das Amtsgericht, wenn es denn anders entscheiden wollte: Konnte das Berufungsgericht den Kläger und dessen Versicherung in vollem Umfang verurteilen, obwohl ja die Entscheidung des Amtsgerichts rechtskräftig geworden war, wonach die Parteien für die aus dem Unfall entstandenen Schäden nur zur Hälfte haften?

Entscheidung

Der VI. Zivilsenat hat das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben, weil dies schon nicht den Anforderungen des § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO genüge:

„Die Berufungsanträge der Parteien sind im Berufungsurteil weder ausdrücklich noch sinngemäß wiedergegeben. Das Begehren der Beklagten zu 2 und 3 lässt sich auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang der Gründe erschließen.

Im Rubrum des Berufungsurteils sind die Beklagten zu 2 und 3 als Berufungskläger genannt, allerdings ist nur der Beklagte zu 2 als Widerkläger angegeben. Aus den Gründen des Berufungsurteils ergibt sich, dass die Entscheidung des Amtsgerichts rechtskräftig ist, soweit dem Kläger ein hälftiger Erstattungsanspruch gegen die Beklagten zuerkannt wurde. Damit bleibt unklar, wogegen sich die Berufung der Beklagten zu 3 richten soll.

Aus dem im Berufungsurteil genannten Umstand, dass die Entscheidung des Amtsgerichts über die Klage rechtskräftig ist, folgt zwar, dass die Berufung des Beklagten zu 2 nur den mit der Widerklage und Drittwiderklage verfolgten Antrag zum Gegenstand haben kann, den das Amtsgericht zur Hälfte abgewiesen hat. Dem Berufungsurteil lässt sich aber weder sinngemäß noch aus dem Gesamtzusammenhang entnehmen, welche Ansprüche der Beklagte zu 2 im Einzelnen noch weiterverfolgt, also welche Haupt- und Nebenforderungen in welcher Höhe Gegenstand der Berufung sind, ebenfalls nicht, in welchem Umfang er den in erster Instanz gestellten und vom Amtsgericht mit einer Quote von 50 % zuerkannten Feststellungsantrag weiterverfolgt.“

Interessant ist aber vor allem die „Segelanweisung“:

„Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die Auffassung des Berufungsgerichts, durch die teilweise stattgebende Entscheidung über die Klage daran gehindert zu sein, der Widerklage weitergehend als das Amtsgericht stattzugeben, nicht zutrifft.

In prozessualer Hinsicht hat das Berufungsgericht insoweit (…) die objektiven Grenzen der Rechtskraft verkannt, die zwar das Bestehen/Nichtbestehen des mit der Klage geltend gemachten Anspruchs erfasst, sich aber nicht auf die Beurteilung von Vorfragen wie hier auf die Frage nach der Unabwendbarkeit des Unfalls für die Beklagten zu 2 und 3 im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG oder die dem Zahlungsausspruch zugrundeliegende Haftungsquote erstreckt (…).“

Anmerkung

Hier war auf Seiten des Berufungsgerichts tatsächlich einiges schiefgelaufen. (Die Segelanweisung behandelt auch noch materiell-rechtliche Fragen.) Wie (wenig) weit die materielle Rechtskraft sachlich und persönlich reicht, bereitet übrigens auch Obergerichten durchaus Probleme, wie z.B. die hier besprochene Entscheidung und der Sachverhalt der Entscheidung des BGH vom 17.12.2020 – III ZR 45/19 zeigen. Zur subjektiven Reichweite (nicht zwischen einfachen Streitgenossen!) s. die hier besprochene Entscheidung. Die subjektive und objektive Reichweite der materiellen Rechtskraft bedarf daher stets besonders sorgfältiger Prüfung. Sie kann aus anwaltlicher Sicht in sachlicher Hinsicht durch die Zwischenfeststellungsklage gem. § 256 Abs. 2 ZPO und in persönlicher Hinsicht durch eine Streitverkündung jedenfalls teilweise erweitert werden. Rechtspolitisch interessant ist übrigens, wie selbstverständlich im Rahmen der begrenzten Rechtskraft widersprüchliche Entscheidung hingenommen werden, gleichzeitig aber widersprechende Teilurteile nach der Rechtsprechung des BGH zur Zulässigkeit von Teilurteilen unbedingt zu vermeiden sind, um das Vertrauen in den Rechtsstaat nicht zu untergraben… Und: Die Entscheidung scheint gerade auch für mitlesende Referendar:innen relevant: Die zugrunde liegende Frage ließe sich ohne Weiteres als „Schlenker“ in eine Klausur einbauen, indem im Sachverhalt beide Prozesse getrennt werden. Die Beklagten berufen sich dann im Folgeprozess darauf, im Erstprozess doch mit ihrer Klage (teilweise) obsiegt zu haben, weshalb ja feststehe, dass die jetzige Klage nicht (vollumfänglich) Erfolg haben könne. tl;dr: Die materielle Rechtskraft erfasst allein das Bestehen/Nichtbestehen des mit der Klage geltend gemachten Anspruchs und erstreckt sich nicht auf die Beurteilung von Vorfragen. Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil vom 15.06.2021 – VI ZR 1029/20. Foto: © Ehssan Khazaeli