Vier Thesen zur Musterfeststellungsklage

Am vergangenen Donnerstag hatte ich die Gelegenheit, auf dem „Disputes Day“ der Kanzlei Taylor Wessing mit der rechts- und verbraucherpolitischen Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und dem Abteilungsleiter Recht, Wettbewerb und Verbraucherpolitik des BDI über die Musterfeststellungsklage zu diskutieren. Dazu hatte ich ein kurzes Eingangsstatement mit vier Thesen vorbereitetet, die ich im Folgenden ein wenig ausformuliert habe – vielleicht sind sie ja auch für manche Leserin oder manchen Leser von Interesse.1. Kaum jemand wird genügend Interesse und Mittel haben, Musterfeststellungsklagen in signifikanter Zahl zu erheben Die Regelungen über die Klagebefugnis in § 606 ZPO n.F. sind derart detailliert und restriktiv, dass als Kläger im Wesentlichen nur noch die Verbraucherzentralen in Betracht kommen. Diese dürften jedoch kaum die Mittel und das Personal haben, in relevanter Zahl komplexe Musterfeststellungsklagen zu führen. Hinzu kommt ein im Laufe des Gesetzgebungsverfahren viel zu wenig thematisiertes Haftungsrisiko der klagenden Einrichtungen (s. dazu ausführlich hier). Denn das Verhältnis zwischen diesen und den anmeldenden Verbrauchern dürfte privatrechtlicher Natur sein und damit Schadensersatzansprüche der Anmelder gegen die klagende Einrichtung begründen, wenn der Musterfeststellungsprozess von Seiten der Einrichtung mangelhaft geführt wird. Dass die Anmeldung ab Beginn der ersten mündlichen Verhandlung nicht mehr zurückgenommen werden kann, das Musterfeststellungsurteil auch zu Lasten der Anmelder Bindungswirkung entfaltet, gleichzeitig aber eine Klageänderung möglich ist, begründete ein nicht unerhebliches Spannungspotential. Gleichzeitig wird die Musterfeststellungsklage für Streuschäden mit geringen individuellen Schadensbeträgen kaum Relevanz entfalten, weil es insoweit attraktivere Rechtsbehelfe gibt (s. unten). Attraktiv ist die Musterfeststellungsklage allenfalls bei Masseschäden (neben dem „VW-Dieselgate“, sei der Skandal rund um mangelhafte Brustimplantate oder der Germanwings-Absturz genannt). Hier stehen regelmäßig erhebliche individuelle Streitwerte/Schadenssummen im Raum; entscheidet sich der Verband im Laufe der Klage an einem bestimmten Punkt falsch, ist das Haftungsrisiko deshalb immens. Und dass ohne, dass es für die Einrichtungen irgendeinen (finanziellen) Anreiz gäbe, solche Verfahren zu führen. 2. In ihrer jetzigen Fassung ist die Musterfeststellungsklage ein Geschenk an die beklagten Unternehmen Die Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteil zu Gunsten wie zu Lasten der Anmelder macht die Musterfeststellungsklage für die beklagten Unternehmen attraktiv, denn sie können viel gewinnen aber nur wenig verlieren: Gewinnt das beklagte Unternehmen den Prozess, kann es sich damit in großem Umfang von potentiellen Verbindlichkeiten befreien. Verliert es den Prozess, passiert zunächst einmal nichts; zahlen muss das Unternehmen nur, wenn auch die individuellen Zahlungsklagen der Verbraucher (rechtskräftig) zu Lasten des Unternehmens abgeschlossen sind. Hier zeigt sich, dass die Konzeption der Musterfeststellungsklage gleichsam auf halbem Wege stehen bleibt: Sinnvoll wäre es, die Musterfeststellungsklage – für den Fall eines teilweisen oder vollständigen Erfolgs – um eine zweite Stufe in Gestalt eines verpflichtenden Schlichtungsverfahrens zu ergänzen, in dem die klagende Einrichtung die Anmelder vertreten kann. 3. Viele der Regelungen in §§ 606 ff ZPO sind handwerklich wenig gelungen Mutmaßlich aufgrund des erheblichen Zeitdrucks zeigen die Regelungen auch im Detail erhebliche konzeptionelle Schwächen. Als Beispiel sei das Rechtsmittelsystem herausgegriffen: Es fehlt eine Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen Zwischenurteile, da diese sich nicht aus einer entsprechenden Anwendung von § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO herleiten lässt, wie der BGH jüngst noch einmal klargestellt hat. Das Dilemma lässt sich an der angekündigten Klage im sog. „VW-Abgasskandal“ sehr anschaulich zeigen: Verneint das OLG Braunschweig ein Zeugnisverweigerungsrecht beispielsweise von Herrn Winterkorn, muss dieser aussagen, ohne die Rechtslage zuvor durch den BGH überprüfen lassen zu können. Selbst wenn der BGH die Rechtslage auf eine Revision der VW AG später anders als das OLG beurteilen würde, wäre die Aussage jedenfalls faktisch nicht mehr zurückzunehmen. Bejaht das OLG hingegen ein Zeugnisverweigerungsrecht und sähe der BGH das auf die Revision der VZBV anders, müsste die – mutmaßlich äußerst komplexe – Beweisaufnahme neu aufgerollt werden. Ebenso stellt die Regelung in § 614 ZPO n.F. über die Revision den Rechtsanwender vor Probleme: Die Regelung ist aus § 20 KapMuG übernommen, wohl ohne dabei zu berücksichtigen, dass es dort um die Rechtsbeschwerde, hier jedoch um die Revision geht. Denn die Regelung allein begründet wohl entgegen der Intention des Gesetzgebers keine zulassungsfreie Revision, weil die ZPO eine solche (mit Ausnahme des absoluten Sonderfalls gem. § 514 Abs. 1 Satz 2, 565 ZPO) nicht kennt. Das hat zur Folge, dass das Gericht mutmaßlich trotz § 614 n.F. die Revision (gleichsam „sicherheitshalber“) zulassen muss (s. dazu ausführlich hier). 4. Der kollektive (Verbands-)Rechtsschutz in Deutschland ist auch ohne die Musterfeststellungsklage schon viel weiter, als vielfach angenommen Kollektiver Rechtsschutz wird (abgesehen von Abtretungsmodellen) mutmaßlich auf absehbare Zeit nur in Gestalt von Verbandsklagen rechtspolitisch diskutiert werden und politisch mehrheitsfähig sein (vgl. auch den Entwurf der EU-Kommission zur Einführung einer Verbandsklage). Bevor neue Instrumente geschaffen werden, wäre insoweit eine Evaluierung und Erfassung des vorhandenen Bestands erhellend gewesen gewesen. Denn sie hätte zutage gefördert, dass das deutsche Recht in der Verbindung aus dem UKlaG und § 8 UWG schon jetzt Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes kennt. Qualifizierte Einrichtungen können schon jetzt die Beseitigung rechtswidriger (Wettbewerbs-)Handlungen verlangen. Dazu gehört – wie Professor Halfmeier hier im Blog sehr lesenswert dargestellt hat – jedenfalls eine Information der betroffenen Verbraucher; nach überzeugender Ansicht des OLG Dresden außerdem auch eine Rückzahlung zu Unrecht erlangter Beträge. Hält man eine „Hardware-Nachrüstung“ der betroffenen Diesel-Fahrzeuge für notwendig, hätte deshalb die VZBV u.U. schon nach der geltenden Rechtslage die VW AG darauf in Anspruch nehmen können; dafür bedarf es allenfalls ein wenig juristischer Kreativität, um die Nachbesserung unter den Begriff der „Beseitigung“ i.S.d. § 8 UWG zu subsumieren. Wegen dieser Rechtslage dürfte in absehbarer Zeit gerade bei Streuschäden aufgrund unzulässiger Gas-/Strompreiserhöhungen oder unzulässiger Versicherungs- und Bank-AGB im UKlaG und im UWG „die Musik spielen“. Die Möglichkeit, Folgenbeseitigungsansprüche (Zahlungsansprüche) durchzusetzen ist nämlich ersichtlich viel interessanter, als bloße Feststellungstitel aufgrund der §§ 606 ff. ZPO zu erwirken. Hinzu kommt, dass die Verbände insoweit keine Haftung gegenüber den geschädigten Verbraucherinnen und Verbrauchern treffen kann, weil es keine Bindungswirkung gibt. Wenn Sie diesen Artikel verlinken wollen, können Sie dafür auch folgenden Kurzlink verwenden: www.zpoblog.de/?p=6692 Foto: wikimedia.org | gemeinfrei