OLG Naumburg: Verweisung im einstweiligen Rechtsschutz auch in der Beschwerdeinstanz

Olaf Meister wikimediaEine Entscheidung des OLG Naumburg zu Verweisungsbeschlüssen war hier noch vor Kurzem Thema.

Mit (erst jetzt veröffentlichtem) weiteren Beschluss vom 19.01.2015 – 12 W 95/14 hat sich das OLG Naumburg außerdem mit der Frage befasst, ob das Beschwerdegericht ein Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung trotz der Regelung des § 571 Abs. 2 ZPO an ein anderes (erstinstanzliches) Gericht verweisen kann.

Sachverhalt

Dem Verfahren lag ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zugrunde, mit dem der Antragsteller die Wiedereinräumung des (Mit-)Besitzes an landwirtschaftlichen Flächen im Raum Rostock begehrte. Den Antrag hatte er aber beim Landgericht Magdeburg gestellt, das den Antrag zurückgewiesen hatte.

Gegen den zurückweisenden Beschluss wendete sich der Antragsteller mit der sofortigen Beschwerde und beantragte hilfsweise die Verweisung an das Landgericht Rostock.

Der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt einen Verfügungsanspruch (den materiell-rechtlichen Anspruch) und einen Verfügungsgrund (die besondere Eilbedürftigkeit) voraus. Zuständig für den Erlass einer einstweiligen Verfügung ist gem. § 937 ZPO das Gericht der Hauptsache, gibt es - wie im Regelfall - (noch) kein Hauptsacheverfahren, ist dasjenige Gericht zuständig, das für ein solches Hauptsacheverfahren zuständig wäre.

Der Antragsteller machte hier Besitzschutzansprüche wegen verbotener Eigenmacht (§§ 861 f. BGB) an Grundstücken geltend, für die gem. § 24 ZPO ausschließlich dasjenige Gericht zuständig ist, in dessen Bezirk sich das Grundstück befindet. Das wäre hier das Landgericht Rostock gewesen.

Aus nicht bekannten Gründen hatte das Landgericht Magdeburg aber den Erlass der einstweiligen Verfügung abgelehnt, wohl ohne die Frage der mangelnden örtlichen Zuständigkeit überhaupt zu thematisieren.

Dagegen hatte sich der Antragsteller mit der sofortigen Beschwerde gewendet. Dem Beschwerdegericht war nun aufgefallen, dass es - ebenso wie das Landgericht Magdeburg - nicht zuständig war. Deshalb hatte der Antragsteller hilfsweise die Verweisung an das Landgericht Rostock beantragt.

Fraglich war aber, ob das OLG nun an das Landgericht Rostock verweisen durfte. Denn das ist gem. § 571 Abs. 2 Satz 2 ZPO grundsätzlich nicht möglich, wenn das erstinstanzliche Gericht seine Zuständigkeit angenommen hat (das Gleiche steht für die Berufung in § 513 Abs. 2 ZPO).

Entscheidung

Das OLG Naumburg verweist den Rechtsstreit auf den Hilfsantrag des Antragstellers unter Hinweis auf § 24 ZPO an das Landgericht Rostock:

„Der Senat ist nicht gehindert, die fehlende Zuständigkeit des Landgerichts Magdeburg auch noch in der Beschwerdeinstanz auf Rüge der Antragsgegnerin hin zu berücksichtigen. § 571 Abs. 2 S. 2 ZPO steht nicht entgegen.

Gemäß § 571 Abs. 2 S. 2 ZPO, der dem § 513 Abs. 2 ZPO im wesentlichen für das Beschwerdeverfahren nachempfunden ist, kann die sofortige Beschwerde zwar grundsätzlich nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht der ersten Instanz seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat.

Gemessen an dem Regelungszweck, Rechtsmittelstreitigkeiten auszuschließen, die allein die Frage der Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts zum Gegenstand haben, schränkt § 513 Abs. 2 ZPO die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung jedoch nur insoweit ein, als hierfür ausschließlich der Festlegung des zuständigen Gerichts dienende Vorschriften in Rede stehen.

Demgegenüber wird die Nachprüfung der Anwendung von Normen, die nicht nur den Gerichtsstand festlegen, sondern darüber hinaus auch andere Zwecke verfolgen und dabei an die Zuständigkeit eines bestimmten Gerichts lediglich anknüpfen, hierdurch gerade nicht ausgeschlossen […].

Dies gilt insbesondere auch für § 937 Abs. 1 ZPO, der mehr als eine Regelung der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit beinhaltet. Denn durch diese Vorschrift soll insbesondere der funktionale Zusammenhang zwischen den Verfahren der Hauptsache und des vorläufigen Rechtsschutzes sichergestellt werden […]. Sinn und Zweck der §§ 937 Abs. 1, 943 ZPO ist, nur dasjenige Gericht auch mit den vorläufigen Maßnahmen zu befassen, das den Rechtsstreit zwischen den Parteien auch in der Hauptsache regelt, also die größere Sachnähe hat. Die Vorschriften dienen insoweit der Prozessökonomie, ebenso wie der Konzentration des Verfahrens und verhindern divergierende Sachentscheidungen verschiedener Gerichte, denen in materiell-rechtlicher Hinsicht dasselbe Problem angetragen wird.

Dieser Gesetzeszweck kann aber nur erreicht werden, wenn gemäß § 943 Abs. 1 ZPO der Spruchkörper desjenigen Gerichts zur Entscheidung über die einstweilige Verfügung berufen ist, bei dem auch die Hauptsache anhängig ist bzw. sein kann. Dementsprechend wird zu § 937 Abs. 1 ZPO ausgeführt, dass die darin vorgenommene Zuweisung der Entscheidung über den Erlass einer einstweiligen Verfügung an das Gericht der Hauptsache unter dem Gesichtspunkt des Sachzusammenhanges einen über die bloße Regelung des Gerichtsstandes hinausgehenden Zweck verfolgt, was der Anwendbarkeit des § 513 Abs. 2 ZPO bzw. hier des § 571 Abs. 2 S. 2 ZPO aber entgegen steht. Die darin angeordnete Verknüpfung zwischen Verfügungs- und Hauptverfahren ist nämlich nicht vergleichbar mit einer bloßen Regelung der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit. Vielmehr werden zwei verschiedene, aber dieselbe Angelegenheit betreffende Verfahren einem einzigen Gericht zugewiesen […].

Die mangelnde örtliche Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges kann dementsprechend aber auch noch in der Beschwerdeinstanz geltend gemacht werden.

Die Unzuständigkeit des Landgerichts Magdeburg war hier im Beschwerdeverfahren trotz § 571 Abs. 2 S. 2 ZPO aber auch deshalb zu beachten, weil die Antragsgegnerin im erstinstanzlichen Verfahren nicht beteiligt war und deshalb zuvor auch noch keine Gelegenheit hatte, die Zuständigkeitsrüge zu erheben.

Der gesetzliche Richter ist eine Institution von Verfassungsrang, wie sich aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ergibt. Von der verfassungsrechtlichen Garantie grundsätzlich auch erfasst ist das Gebot, dass nur das nach der Verfahrensordnung örtlich zuständige Gericht tätig wird. Dieser Grundsatz beansprucht für das Rechtsmittelverfahren allenfalls dann keine Geltung, wenn die Parteien über die Zuständigkeit verhandelt haben oder aber die betreffende Partei sich bei dem örtlich unzuständigen Gericht in das Verfahren sachlich einlässt, ohne die fehlende Zuständigkeit zu rügen. Nur auf solche Fälle treffen § 513 Abs. 2 ZPO und § 571 Abs. 2 S. 2 ZPO zu, denn es erscheint praktisch undenkbar, dass in einem streitig durchgeführten erstinstanzlichen Verfahren der Gegner nicht gehört wurde und damit auch keine Gelegenheit erhielt, Einwendungen gegen die örtliche Unzuständigkeit zu erheben. Anders verhält es sich indessen, wenn dem Gegner in erster Instanz kein rechtliches Gehör gewährt worden ist und er daher in dieser Instanz die örtliche Unzuständigkeit auch nicht rügen konnte […].

In diesem Fall ist eine teleologische Reduktion des § 571 Abs. 2 S. 2 ZPO geboten.“

Anmerkung

Zu der vom OLG Naumburg thematisierten Frage habe ich in Literatur und Rechtsprechung nichts finden können. Erstaunlicherweise scheint sich die Frage bislang niemand gestellt zu haben. Die teleologische Reduktion von § 571 Abs. 2 Satz 2 ZPO erscheint mir aber in Fällen wie dem zu entscheidenden überzeugend.

tl;dr: Ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung durch Beschluss ohne Anhörung des Gegners zurückgewiesen worden, kann das Beschwerdegericht trotz § 571 Abs. 2 Satz 2 ZPO an ein ausschließlich zuständiges erstinstanzliches Gericht verweisen.

Anmerkung/Besprechung, OLG Naumburg, Beschluss vom 19.01.2015 – 12 W 95/14. Foto: Olaf Meister (Olaf2), OLG Naumburg, CC BY-SA 4.0