OLG Nürnberg: Rechtliche Hinweise im obiter dictum des Berufungsurteils?

Auch Ausführungen eines Rechtsmittelgerichts in einer „Segelanweisung“ oder einem obiter dictum sollten die Parteien sorgfältig zur Kenntnis nehmen, wenn zugleich das Urteil der Vorinstanz aufgehoben und die Sache zurückverwiesen wird. Denn solche Ausführungen können rechtliche Hinweise i.S.d. § 139 ZPO darstellen, wie ein Beschluss des OLG Nürnberg vom 19.09.2018 – 2 U 2307/17 deutlich macht.

Sachverhalt

Die als selbständige Händlerin tätige Klägerin begehrt mit ihrer 2008 erhobenen Klage Schadensersatz in Gestalt entgangenen Gewinns (§ 252 BGB) sowie die Feststellung, dass die Beklagte ihr zum Ersatz weiteren Schadens verpflichtet sei. Der Verfahrensgang ist ziemlich verworren: Vor dem Landgericht war zunächst im Jahr 2012 (!) ein Versäumnisurteil gegen die Klägerin ergangen. Den dagegen gerichteten Einspruch verwarf das Landgericht am 26.11.2014 als unzulässig. Auf die Berufung der Klägerin hob das OLG das Verwerfungsurteil am 28.06.2017 auf und verwies die Sache zurück. Dabei führt es außerdem aus, dass der bisherige Vortrag der Klägerin zum Umfang der von ihr vor dem Unfall ausgeführten einzelnen Tätigkeiten, zu den verletzungsbedingten Einschränkungen sowie zum Gewinnrückgang ergänzungsbedürftig sei. Mit Verfügung vom 13.07.2017 bestimmte das Landgericht daraufhin einen Termin zur mündlichen Verhandlung für den 09.08.2017, der mehrmals verlegt wurde und schließlich am 23.10.2017 stattfand. Im Termin beantragte der Klägervertreter im Hinblick auf das im Termin erörterte Urteil des OLG eine vierwöchige Schriftsatzfrist und stellte keinen Sachantrag. Mit Urteil vom 21.11.2017 hat das Landgericht die Klage in einem Urteil nach Lage der Akten (§ 331a ZPO) abgewiesen und den Antrag auf Gewährung eines Schriftsatznachlasses zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Berufung und trägt mit Schriftsatz vom 21.02.2018 schließlich ergänzend zu den im Urteil des OLG vom 28.06.2017 genannten Punkten vor; die Beklagte hat dieses Vorbringen bestritten.

Der Verfahrensablauf hier ist ein Lehrstück zum Versäumnisverfahren gem. §§ 330 ZPO: Es war zunächst ein erstes Versäumnisurteil gegen die Klägerin ergangen, § 330 ZPO (Tenor: „Die Klage wird abgewiesen“). Dagegen hatte die Klägerin Einspruch eingelegt, § 338 ZPO. Den Einspruch hielt das Landgericht allerdings für unzulässig, weshalb es ihn als unzulässig verwarf (§ 341 ZPO). Gegen dieses Urteil wendete sich die Klägerin mit der Berufung. Und auf die Berufung hin hob das OLG das Verwerfungsurteil auf und verwies die Sache an das Landgericht zurück (§ 538 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 2 ZPO), damit dies nun in der Sache entscheiden möge. In diesem Urteil – das sich ja in der Sache nur mit der Zulässigkeit des Einspruchs befasste – hatte das OLG außerdem Ausführungen dazu gemacht, dass der Vortrag der Klägerin zum entgangenen Gewinn bislang nicht ausreichend sei. Daraufhin war aber nichts passiert, weder vor dem dann erneut vom Landgericht anberaumten Termin noch in dem Termin, in dem das Gericht sich die Hinweise des OLG zu Eigen gemacht hatte. Die Klägerin hatte lediglich beantragt, ihr Schriftsatznachlass zu gewähren, um zum Hinweis ergänzend vorzutragen (§ 139 Abs. 5 ZPO), ansonsten aber keinen Sachantrag gestellt. Sie wollte, dass gegen sie (wiederum) ein Versäumnisurteil ergeht, und sie dann mit der Einspruchsschrift (§ 340 ZPO) ergänzend zu den Punkten hätte vortragen können. Das Gericht hatte allerdings nicht durch Versäumnisurteil entschieden, sondern gem. § 331a ZPO durch Urteil nach Lage der Akten. Damit war die Instanz abgeschlossen und der Klägerin blieb nur noch die Möglichkeit, in der Berufungsinstanz ergänzend vorzutragen. Diese ergänzenden Angaben der Klägerin waren nun aber in der Berufungsinstanz neu i.S.d. § 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO. Sie waren deshalb vom Berufungsgericht nur zu berücksichtigen, wenn die Voraussetzungen einer der Alternativen in § 531 Abs. 2 ZPO vorlagen. Hier kam insbesondere Ziff. 3 in Betracht, worunter auch das Fehlen eines rechtlichen Hinweises fällt. Denn das Landgericht selbst hatte die Klägerin unstreitig vor dem Termin nicht darauf hingewiesen, dass der Vortrag zum entgangenen Gewinn nicht ausreichend war. Allerdings hatte das OLG in seinem Urteil dazu Ausführungen gemacht. Fraglich war deshalb, ob dies ausreichte, oder ob das Landgericht selbst auch noch (vor dem Termin) einen Hinweis hätte erteilen müssen.

Entscheidung

Das OLG hat darauf hingewiesen, dass es beabsichtige, die Berufung gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen; die Klägerin hat die Berufung daraufhin zurückgenommen.

„Soweit die Klägerin im Schriftsatz vom 21.02.2018 neue Tatsachen vorträgt, (…) liegen die Voraussetzungen des § 530 Abs. 2 Satz 1 ZPO [richtig: § 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO] für deren Zulassung nicht vor.

Die Klägerin beruft sich ohne Erfolg unter dem Gesichtspunkt einer Missachtung der richterlichen Hinweispflicht (§ 139 ZPO) auf eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Die angefochtene Entscheidung beruht nicht auf einem möglicherweise verspätet erteilten Hinweis des Landgerichts, weil die Klägerin schon infolge der Ausführungen des Senats im Urteil vom 28.06.2017 zutreffend und umfassend über die Sach- und Rechtslage unterrichtet war. (...)

Die in § 139 ZPO normierten Hinweispflichten modifizieren den Beibringungsgrundsatz lediglich in gewisser Weise durch das Gebot richterlicher Hilfestellung (…). Sie konkretisieren den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör und dienen der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen. So muss es den Parteien ermöglicht werden, vor einer Entscheidung zu Wort zu kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Die Parteien dürfen deshalb nicht gehindert werden, rechtzeitig ihren (entscheidungserheblichen) Sachvortrag zu ergänzen (…).

Im Interesse einer sachgerechten Entscheidung des Rechtsstreits hat das Gericht daher ergänzend einzugreifen, wenn anzunehmen ist, dass das mangelhafte Vorbringen einer Partei auf einem Versehen oder einem Irrtum beruht und die Partei auf einen Hinweis den Mangel beseitigen wird (…). Die Hinweispflicht greift demgemäß auch gegenüber einer anwaltlich vertretenen Parteien, wenn die Rechtslage erkennbar falsch beurteilt oder ersichtlich darauf vertraut wird, das schriftsätzliche Vorbringen sei ausreichend (…). Erforderlich ist ein Hinweis darüber hinaus dann, wenn das Gericht Anforderungen an den Sachvortrag stellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter – selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen – nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (…).

Art. 103 Abs. 1 GG verlangt aber weder, dass das Gericht vor der Entscheidung auf seine Rechtsauffassung hinweist, noch ist dem Grundrecht eine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters zu entnehmen (…). Vielmehr bedarf es eines konkreten Anlasses für einen Hinweis (…). Deshalb erübrigt sich eine Hinweispflicht, wenn ein etwaiger Aufklärungsbedarf bereits befriedigt ist. Davon ist nicht nur auszugehen, wenn ein Erfordernis weiteren Sachvortrags schon in der Vorinstanz hervorgehoben worden ist (…). Vielmehr gilt dies auch, wenn Entsprechendes im höheren Rechtszug – beispielsweise im Rahmen eines zurückverweisenden Urteils – dargestellt worden ist (…).

Ob die erneut befasste Vorinstanz an die Rechtsauffassung des Rechtsmittelgerichts gebunden ist, ist dabei unerheblich. Denn durch den Hinweis des Rechtsmittelgerichts erhält die Partei die Möglichkeit, Art und Umfang ihres bisherigen Vorbringens zu überdenken. Sie kann entweder Gegenstand und Umfang ihrer bisherigen Sachverhaltsdarstellung verteidigen oder – gegebenenfalls auch nur hilfsweise – weiter vortragen. Die Notwendigkeit dazu ergibt sich unabhängig von irgendwelchen Fristsetzungen durch die erneut befasste Vorinstanz aus der Prozessförderpflicht, § 282 ZPO. Diese verpflichtet die Parteien zur konzentrierten Verfahrensführung. Es soll sichergestellt werden, dass der Sachvortrag nicht nur rechtzeitig, sondern auch in dem jeweils gebotenen Umfang vorgebracht wird (…). Dabei bleibt es stets jeder Partei – und damit auch Klägerin im vorliegenden Fall – überlassen, ob sie einem Hinweis folgt oder nicht (…).

Auch wenn das erneut befasste Landgericht bei seiner Entscheidung, ob es dem Senat folgen will, nicht gebunden gewesen sein sollte, musste eine gewissenhafte und kundige Partei angesichts des bisherigen Prozessverlaufs auch damit rechnen, dass dieser Fall eintritt. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass in dem Senatsurteil keinesfalls eine neue Rechtsansicht entwickelt bzw. vertreten, sondern ausschließlich die gefestigte Rechtsprechung dargestellt wurde.“

Anmerkung

Das deckt sich im Ergebnis mit der auch hier schon vertretenen Auffassung, dass nicht maßgeblich sein kann, dass und oder von wem eine Partei auf etwas hingewiesen wurde, sondern allein darauf, ob auf Seiten der hinweisbedürftigen Partei (noch) ein Irrtum bzw. Aufklärungsbedarf besteht. Und daran kann hier kaum ein Zweifel bestehen, wollen die Klägerin bzw. ihr Bevollmächtigter nicht ernsthaft behaupten, das Urteil des OLG nicht zu Ende gelesen zu haben. tl;dr: Eine Hinweispflicht gemäß § 139 ZPO besteht nicht, wenn ein etwaiger Aufklärungsbedarf bereits befriedigt ist. Davon ist auszugehen, wenn ein Erfordernis weiteren Sachvortrags im höheren Rechtszug – beispielsweise im Rahmen eines zurückverweisenden Urteils – dargestellt worden ist. Anmerkung/Besprechung, OLG Nürnberg, Beschluss vom 19.09.2018 – 2 U 2307/17. Foto: wikimedia.org | gemeinfrei