Selbständiges Beweisverfahren trotz Schiedsgutachtenabrede?

Karlsruhe_OLG_Andreas Praefcke_wikimedia-cc-by-sa3.0Ergeben sich bei großen Bauvorhaben Streitigkeiten über Mängel, vereinbaren die Beteiligten häufig die Einholung eines Schiedsgutachtens, anstatt die Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens zu beantragen. Damit geht meistens (auch) die Erwartung einher, dass der privat bestellte Gutachter schneller sein wird, als der vom Gericht bestellte Gutachter.

Mit der Frage, ob und ggf. wann trotz einer solchen Abrede ein selbständiges Beweisverfahren zulässig bleibt, hat sich das OLG Karlsruhe mit Beschluss vom 17.08.2015 – 9 W 30/15 befasst.

Sachverhalt

Die Antragstellerin hatte bei einem Bauvorhaben die Antragsgegnerin zu 1) als Generalunternehmerin und die Antragsgegnerin zu 2) mit Architektenleistungen beauftragt. Die Ausführung der Bauarbeiten entsprach jedoch nicht den Vorstellungen der Antragstellerin. Sie hatte daher im Dezember 2013 beantragt, im Wege des selbständigen Beweisverfahrens Beweis zu erheben über bestimmte Baumängel, deren Ursache und die Höhe der ggf. erforderlichen Beseitigungskosten.

Schon 2011 hatten die Beteiligten aber unter Beteiligung eines Sachverständigen einen „Schiedsgutachtervertrag“ geschlossen. Darin war bestimmt, dass der Sachverständige im Auftrag der Parteien bei dem fraglichen Bauvorhaben bestimmte näher konkretisierte Feststellungen treffen sollte und die Parteien die Feststellungen des Sachverständigen „als für sich verbindlich anerkennen“. Außerdem vereinbarten die Parteien, dass durch den Schiedsgutachtervertrag „der Rechtsweg in der Weise ausgeschlossen wird, dass ein später in gleicher Sache angerufenes Gericht die schiedsgutachterlichen Feststellungen nur im Falle grober Unbilligkeit und/oder offensichtlicher Unrichtigkeit abändern kann“.

Unter Bezugnahme auf diese Abrede hatte das Landgericht den Antrag auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens zurückgewiesen. Dagegen wendete sich die Antragstellerin mit der sofortigen Beschwerde. Denn der „Schiedsgutachter“ hatte auch nach mehr als zwei Jahren nur einen geringen Teil des vereinbarten Gutachtens erstattet.

Die Klägerin hatte hier nicht sofort Klage erhoben, sondern zunächst die Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens gem. §§ 485 ZPO beantragt. Damit kann während oder außerhalb eines Prozesses über eine streitige Tatsachenfrage Beweis erhoben werden: Gem. § 485 Abs. 1 ZPO, wenn eine Beweisaufnahme besonders eilbedürftig ist oder gem. § 485 Abs. 2 ZPO, wenn der Antragsteller ein rechtliches Interesse an der Feststellung hat, insbesondere wenn die Beweisaufnahme möglicherweise einen Prozess vermeiden kann. Das Beweisergebnis des selbständigen Beweisverfahrens kann gem. § 493 ZPO später im Prozess verwendet werden und ist daher grundsätzlich zwischen den Parteien bindend.

Außerdem hatten die Beteiligten eine Schiedsgutachtenabrede getroffen. D.h., sie hatten einen Vertrag geschlossen, nach dessen Inhalt die zwischen ihnen streitige Punkte (hier die Mängel des Bauwerks) durch einen von beiden gemeinsam benannten Gutachter bindend geklärt werden sollten. Eine solche Schiedsgutachtenabrede ist ein klassischer Fall der §§ 317--319 BGB.

Aufgrund dieser Schiedsgutachtenabrede hatte das Landgericht den Antrag mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Antragstellerin kein rechtliches Interesse i.S.d. § 485 Abs. 2 ZPO an dem Verfahren habe. Denn die in Rede stehenden Fragen sollte ja der Schiedsgutachter klären.

Entscheidung

Das OLG hält den Antrag auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens trotz der bestehenden Schiedsabrede für zulässig:

„Die Parteien haben Rechtsfolgen des Schiedsgutachtens lediglich geregelt für die mögliche Tatsachenfeststellung in einem späteren Hauptprozess. Eine Beschränkung der Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens ist damit nicht verbunden.

Allerdings wäre der Antrag der Antragstellerin dann unzulässig, wenn durch die Schiedsgutachtenabrede das für die Durchführung des selbstständigen Beweisverfahrens erforderliche rechtliche Interesse (§ 485 Abs. 2 ZPO) entfallen würde. Wenn die Schiedsgutachtenabrede indirekt zur Konsequenz hätte, dass – wegen der Vorrangigkeit eines Schiedsgutachtens – ein Gutachten im selbstständigen Beweisverfahren nicht mehr zur Klärung von Streitfragen beitragen könnte, würde das Rechtschutzinteresse für den Antrag der Antragstellerin fehlen. […]

Im vorliegenden Fall wird das rechtliche Interesse der Antragstellerin an der Durchführung des selbstständigen Beweisverfahrens durch die Schiedsgutachtenklausel jedoch nicht beseitigt.

aa) Die Antragstellerin weist zu Recht darauf hin, dass im Schiedsgutachtervertrag für den Gutachter ein Aufgabenbereich vorgesehen war, welcher hinter den Beweisfragen, die Gegenstand des Antrags im selbstständigen Beweisverfahren sind, in verschiedenen wesentlichen Punkten deutlich zurückbleibt. Da die Parteien für einen erheblichen Teil der Beweisfragen des vorliegenden Verfahrens kein Schiedsgutachten vorgesehen hatten, kommt für diese Fragen ein Vorrang des Schiedsgutachtervertrages von vorneherein nicht in Betracht.

bb) Der Schiedsgutachtervertrag vom 25.08.2011 wurde zudem in der Vergangenheit nur zu einem geringen Teil durchgeführt.

Von den im Schiedsgutachtervertrag vorgesehenen Aufgaben hat der Sachverständige bisher nur einen Teil ausgeführt. Es liegt ein Teilgutachten […] vor […]. Unstreitig sind die im Schiedsgutachten […] behandelten Fragen mit den Beweisfragen, welche die Antragstellerin zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens gemacht hat, nicht identisch.

cc) Der Schiedsgutachtervertrag sieht eine Bindung der Parteien hinsichtlich bestimmter tatsächlicher Feststellungen nur insoweit vor, als der Schiedsgutachter diese Feststellungen in seinem Gutachten getroffen hat. Aus dem Schiedsgutachtervertrag ergibt sich hingegen keine Bindung der Parteien für einen Rechtstreit vor einem ordentlichen Gericht hinsichtlich derjenigen Fragen, für welche ein Schiedsgutachten nicht vorliegt.

Daraus folgt für das Rechtschutzinteresse der Antragstellerin im selbstständigen Beweisverfahren: Die Antragstellerin ist nicht gehindert, ein Gutachten aus einem selbstständigen Beweisverfahren in einem späteren Hauptprozess auch insoweit zu verwenden, als dieses Gutachten den im Vertrag vom 25.08.2011 an sich vorgesehenen Aufgabenbereich für ein Schiedsgutachten betrifft. Das gilt jedenfalls dann, wenn und soweit das Schiedsgutachten – trotz der weitergehenden Aufgabenbeschreibung im Vertrag vom 25.08.2011 – tatsächlich nicht eingeholt wird.

dd) Das Rechtschutzbedürfnis der Antragstellerin wäre mithin nur dann zweifelhaft, wenn damit zu rechnen wäre, dass hinsichtlich der von ihr formulierten Beweisfragen in der Zukunft noch ein (weiteres) Schiedsgutachten erstellt wird, welches dann nach der vertraglichen Vereinbarung einer Benutzung der Ergebnisse aus dem selbstständigen Beweisverfahren in einem Hauptsacheverfahren entgegenstehen könnte.

Eine solche Entwicklung lässt sich zwar nicht ausschließen, ist jedoch nicht wahrscheinlich.

Der Schiedsgutachtervertrag stammt aus dem Jahr 2011. Das vorliegende (Teil-)Schiedsgutachten datiert vom 28.04.2012. Seit diesem Zeitpunkt hat es unstreitig keine weitere Tätigkeit des Schiedsgutachters mehr gegeben. Zwar sind die Ursachen dafür, dass die Vereinbarung vom 25.08.2011 bisher nur zu einem geringen Teil durchgeführt wurde, unklar. Es ist jedoch auch nach dem Vorbringen der Antragsgegner nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin eine weitere Tätigkeit des Schiedsgutachters pflichtwidrig vereitelt hätte.

Unter diesen Umständen besteht zumindest eine Wahrscheinlichkeit, dass dem im selbstständigen Beweisverfahren einzuholenden Gutachten – für sämtliche Beweisfragen – kein paralleles Schiedsgutachten gegenüberstehen wird. Die Parteien werden ein Gutachten aus dem selbstständigen Beweisverfahren mithin voraussichtlich zur Klärung von Ansprüchen nutzen können. Daraus ergibt sich das rechtliche Interesse im Sinne von § 485 Abs. 2 ZPO.

ee) Bei der Beurteilung des Rechtschutzbedürfnisses ist zudem darauf hinzuweisen, dass die rechtlichen Interessen der Antragsgegner durch das selbstständige Beweisverfahren kaum beeinträchtigt werden. Sollte wider Erwarten noch ein weiteres Schiedsgutachten erstellt werden, wird das spätere Gericht des Hauptsacheprozesses über den Vorrang von Feststellungen in diesem Schiedsgutachten gegenüber den Feststellungen aus einem selbstständigen Beweisverfahren selbstständig entscheiden können, ohne eine rechtliche Bindung an die Entscheidungen im vorliegenden Verfahren.

Das Kostenrisiko liegt zudem bei der Antragstellerin. Diese hat die erforderlichen Vorschüsse für die vorgesehene umfangreiche Beweiserhebung zu leisten. Sollte sich herausstellen, dass die Begutachtung im selbständigen Beweisverfahren in einem späteren Hauptverfahren teilweise keine Verwendung finden kann, wäre dies im Hauptsacheprozess bei der Kostenentscheidung zu Lasten der Antragstellerin zu berücksichtigen […].“

Anmerkung

Die Entscheidung halte ich im Ergebnis, nicht aber in der Begründung für überzeugend.

Die (Haupt-)Begründung des OLG lautet kurz zusammengefasst: Weil der Schiedsgutachter nicht „in die Hufe kommt", ist das selbständige Beweisverfahren zulässig. Das entspricht zwar dem Rechtsgedanken des § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB, m.E. hätte das OLG das dann aber auch so sagen und eine Verzögerung i.S.d. § 319 BGB bejahen müssen (auf § 319 BGB geht das OLG mit keinem Wort ein). Darauf abzustellen, ob das Schiedsgutachten wohl noch erstellt werden wird, erscheint mir außerhalb von § 319 BGB kein geeignetes Abgrenzungskriterium.

Vielleicht wollte das OLG auch schlicht zur Frage der Zulässigkeit eines selbständigen Beweisverfahrens trotz Schiedsgutachtenabrede keine Stellung nehmen. Denn die Frage ist in Rechtsprechung und Literatur äußerst umstritten: Teilweise wird ein selbständiges Beweisverfahren stets für zulässig zu halten, soweit es nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist (ebenso OLG Köln, Beschluss vom 24.04.0008 – 15 W 15/08; BeckOK-ZPO/Kratz, § 485 Rn. 20; Acker/Konopka, SchiedsVZ 2003, 256, 260; von Bernuth, ZIP 1998, 2081); teilweise stets für unzulässig gehalten (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28.04.1998 - 23 W 25/98; Werner/Pastor, Der Bauprozess, Rn.71), teilweise nur für zulässig gehalten, wenn damit die „offenbare Unrichtigkeit" des Schiedsgutachten bewiesen werden soll (OLG Bremen, Beschluss vom 30.03.2009 – 1 W 10/09) oder die Beteiligten über die Wirksamkeit der Abrede streiten (OLG Brandenburg, Beschluss vom 19.04.2002 - 7 W 16/02) und teilweise nur ein selbständiges Beweisverfahren auf Grundlage von § 485 Abs. 1 ZPO für zulässig gehalten (Stein/Jonas/Leipold, § 485 Rn. 37; Musielak/Voit/Huber, § 486 Rn. 3).

M.E. spricht viel dafür, ein selbständiges Beweisverfahren trotz einer Schiedsgutachtenabrede zuzulassen. Denn an das „rechtliche Interesse" i.S.d. § 485 Abs. 2 ZPO sind nur äußerst geringe Anforderungen zu stellen. Und es wird kaum auszuschließen sein, dass es später zu einem Prozess kommt und beispielsweise mit dem Ergebnis des selbständigen Beweisverfahren eine „offensichtliche Unrichtigkeit“ des Schiedsgutachtens zu belegen (vgl. § 319 Abs. 1 BGB). Und, wie das OLG auch ausführt, die Interessen der Antragsgegner werden kaum beeinträchtigt, insbesondere trägt die Antragstellerin zunächst die Kosten und damit auch das Risiko, dass das Gutachten später im Prozess nicht verwendet wird.

Anmerkung/Besprechung, OLG Karlsruhe, 17.08.2015 – 9 W 30/15. Foto: Andreas Praefcke | wikimedia.org | CC BY-SA 3.0