Class Action ohne Class

Parallel zur Musterfeststellungsklage in Deutschland hat die Europäische Kommission einen Richtlinienentwurf zur Einführung einer echten Sammelklage vorgelegt („RL-E“). Der Entwurf – würde er implementiert – wird die europäische Zivilprozesslandschaft erheblich verändern. Denn die Regelungen gehen für Verbraucher und Unternehmer über die jüngst in Deutschland beschlossene Musterfeststellungsklage weit hinaus. Allerdings sieht der Richtlinienentwurf keinen Mechanismus vor, den Kreis der betroffenen Verbraucher klar zu definieren und abzugrenzen.

Fehlende Konkretisierung der „betroffenen Verbraucher“

Eine Regelung zur Bestimmung des Kreises der „betroffenen Verbraucher“ sucht man im Richtlinienentwurf vergebens. Die Artt. 5 und 6 RL-E regeln allein die Klagebefugnis qualifizierter Einrichtungen. Eine Mandatierung durch einen oder mehrere betroffene Verbraucher ist nicht erforderlich (kein opt-in). Zwar sieht Art. 6 Abs. 1 S. 2 RL-E die Möglichkeit nationaler Mandatierungserfordernisse vor. Ob und wie dies einzelstaatlich umgesetzt werden wird, ist aber offen. Zudem gilt die Öffnungsklausel nicht für Unterlassungsverfügungen im einstweiligen Rechtsschutz gemäß Art. 5 Abs. 2 RL-E. Nach dem vorliegenden Entwurf können sich Verbraucher weder der erhobenen Klage anschließen noch ihrer Bindungswirkung entziehen. Die in der Richtlinie vorgesehenen Klagearten haben jeweils zwingend kollektive Wirkung, positiv wie negativ. Implizit geht das Regelungswerk davon aus, dass die qualifizierte Einrichtung die jeweiligen Maßnahmen für die „betroffenen Verbraucher“ ergreifen. Im Falle einer Verbandsklage folgt dies aus der Legaldefinition in Art. 3 Nr. 4 RL-E. Die Betroffenheit bezieht sich dabei auf den geltend gemachten Rechtsverstoß. Allerdings sieht das gerichtliche Verfahren keine Konkretisierung der betroffenen Verbrauchergruppe vor. Die qualifizierte Einrichtung muss gemäß Art. 6 Abs. 1 RL-E bei Klageerhebung lediglich eine „Beschreibung der von der Klage betroffenen Verbraucher“ vorlegen. Doch ohne Konkretisierung der betroffenen Verbraucher entstehen eine Vielzahl praktischer Probleme: Weder die qualifizierte Einrichtung, noch der Beklagte oder das Gericht können verlässlich beurteilen, welche und wie viele Verbraucher von der Entscheidung betroffen sein werden. Ob die Voraussetzungen der geltend gemachten Ansprüche tatsächlich, also inhaltlich oder nur zeitlich vergleichbar sind, steht nicht fest. Damit steht auch nicht fest, ob eine Sammelklage überhaupt zulässig und sinnvoll ist: Ist überhaupt eine erhebliche Anzahl von Verbrauchern betroffen? Erledigt eine Sammelklage eine hinreichend große Anzahl von streitigen Rechtsfragen? Werden Tatsachen so umfassend festgestellt, dass Einzelprozesse entbehrlich werden? Zweifel sind angebracht. Zudem sind die finanziellen Auswirkungen einer gerichtlichen Entscheidung kaum bestimmbar. Ein Beispiel: Eine qualifizierte Einrichtung erhebt eine Klage gegen eine Fluggesellschaft mit dem Antrag, festzustellen, dass aufgrund verfehlter Personalpolitik Flüge ausfielen und daher Schadenersatzansprüche der Ticketinhaber bestehen. Bilden alle Fluggäste einer Fluggesellschaft eine Class? Oder nur die Fluggäste, deren Flug tatsächlich ausgefallen ist? Oder verspätet war? Wie lange? Auf welcher Grundlage wird die Class konkret definiert?

Erhebliche praktische Probleme

Nach der bisherigen Systematik des Richtlinienentwurfs bleiben all diese Fragen im Vorfeld unbeantwortet. Dieser legislative Mangel führt zu erheblichen praktischen Konsequenzen: Die fehlende Konkretisierung des Kreises der Betroffenen und die damit einhergehende fehlende Bestimmbarkeit für das beklagte Unternehmen macht einen Vergleich kaum kalkulierbar. Das beklagte Unternehmen kann angesichts des unbestimmten Kreises potentieller Vergleichsberechtigter keinen Vergleich abschließen, der eine Entschädigung pro Verbraucher vorsieht. Umgekehrt droht bei einer einzigen Zahlung der einzelne Verbraucher im Ergebnis einen deutlich zu geringen Betrag zu erhalten. Schließlich ist das Gericht praktisch nicht in der Lage, die Rechtmäßigkeit und Fairness des Vergleichs unter Berücksichtigung der Rechte und Interessen aller Parteien sowie der betroffenen Verbraucher zu beurteilen, wie Art. 8 Abs. 4 RL-E dies vorsieht. Damit wird in einer Vielzahl von Fällen der Abschluss von Vergleichen praktisch ausgeschlossen sein und ein erklärtes Ziel der Richtlinie nicht erreicht. Die gleiche Problematik stellt sich auch bei der mit Klageerhebung gemäß Art. 11 RL-E eintretenden Hemmung der Verjährung. Sowohl für den Beklagten, als auch für die potentiell betroffenen Verbraucher ist kaum rechtssicher bestimmbar, für welche Ansprüche von welchen Verbrauchern die Verjährung gehemmt wird. Damit wird das Rechtsinstitut der Verjährungshemmung für einen unbestimmten Zeitraum auf einen unbestimmten Adressatenkreis ausgeweitet. Rechtssicherheit und Rechtsfrieden lassen sich so kaum erreichen – ein weiteres erklärtes Ziel, das der Richtlinienentwurf verfehlt. Es besteht bis zuletzt keine Gewissheit, ob der individuelle Anspruch verjährt ist oder die hemmende Wirkung der Verbandsklage greift – weder für die Verbraucher, noch für das beklagte Unternehmen. Schließlich ist auch im Rahmen der Informationspflicht nach Art. 9 Abs. 1 RL-E für den Beklagten und ein gegebenenfalls darüber entscheidendes Gericht nicht bestimmbar, welche Verbraucher im konkreten Fall, im Zweifel sogar individuell, zu benachrichtigen sind. In der Praxis wird sich zusätzlich das Problem stellen, wie mit den Ansprüchen zu Unrecht informierter Verbraucher umzugehen sein wird. In der Konsequenz wäre daher jedem Verbraucher zu raten, sich im Zweifel nicht auf die Rechtswirkungen der Sammelklage zu verlassen, sondern vorsorglich eine Individualklage zu erheben, um rechtssicher die Verjährung zu hemmen. Denn für den Verbraucher besteht ein erhebliches Risiko, dass nach einem Urteil im Sammelklageverfahren die eigene Betroffenheit, die Reichweite der Bindungswirkung des Urteils und die Hemmung der Verjährung für alle behaupteten Ansprüche erneut gerichtlich durch die Instanzen geklärt werden müssen. Obsiegt der Verbraucher in einem solchen Folgeprozess, hat er zumindest erhebliche Zeit, Kosten und Mühen investiert. Unterliegt er, hätte er sich – zusätzlich – seiner Rechtspositionen unbewusst und ungewollt begeben. Damit würde ein (weiteres) zentrales Vorhaben des Entwurfs – die effiziente Verfahrensgestaltung und Entlastung der Gerichte – ins Gegenteil verkehrt.

Class Certification und Klageregister

Zur Lösung dieser Probleme kommen verschiedene Instrumente in Betracht. Zunächst drängt sich ein an das US-System angelehntes vorgeschaltetes „Class Certification“ Verfahren auf. Denn anders als im Kommissionsentwurf bestehen für die US class action strenge zivilprozessuale Voraussetzungen. Nach Regel 23 der US-Zivilprozessordnung (FRCP) muss der die Class vertretende lead plaintiff darlegen, dass die Class zahlenmäßig so groß ist, dass ein Beitritt aller Mitglieder nicht durchführbar ist (Anzahl), es Rechts- oder Sachfragen gibt, die der Class gemein sind (Vergleichbarkeit / Relevanz), die Ansprüche oder Einreden der vertretenden Partei typisch für die Ansprüche oder Einreden der Klasse sind (Typisierung) und der Kläger den Interessen der Class gerecht wird und diese angemessen geschützt werden (Angemessenheit). Die Regel dient dazu, die Hürden zur Erhebung von Sammelklagen zu erhöhen und Missbrauchspotentiale abzumildern. Sinnvoll könnte in diesem Zusammenhang auch die Einführung eines Europäischen Klageregisters (ähnlich dem in Deutschland für die Musterfeststellungsklage vorgesehenen Klageregister) sein, um den Kreis der von der Sammelklage betroffenen Verbraucher konkret zu definieren. Streitigkeiten über die Betroffenheit würden so vermieden, wenn das Gericht die Zugehörigkeit zur Class bei der Eintragung ins Klageregister prüft. Ein „Class Certification“ und Registerverfahren gäbe den Parteien, dem Gericht und den angemeldeten Verbrauchern Rechtssicherheit über die Auswirkungen des Verfahrens. Verbraucher und Unternehmen hätten Gewissheit hinsichtlich der Verjährungshemmung. Auch könnten die Parteien ihre jeweiligen Prozessrisiken zuverlässig abschätzen. Vergleiche wären für das beklagte Unternehmen kalkulierbar und für das Gericht überprüfbar. Im Falle eines Urteils hätten alle Beteiligten Gewissheit über den persönlichen und sachlichen Umfang der Bindungswirkung. Damit würde der europäische Gesetzgeber die derzeit drohenden Folgeprozesse vermeiden und sich zumindest einem seiner Regelungsziele annähern: der Schaffung eines effizienten Rechtsschutzinstruments. Dr. Christoph Baus ist Partner und Chair des deutschen Litigation & Trial Departments von Latham & Watkins, Johann Christoph Schaper ist Senior Associate der Kanzlei. Wenn Sie diesen Artikel verlinken wollen, können Sie dafür auch folgenden Kurzlink verwenden: www.zpoblog.de/?p=6638