Wenn nichts mehr hilft, hilft die (Landes-)Verfassungsbeschwerde?

lg-leipzig-l-e-rewi-sor-cc-by-sa-3-0Schon etwas älter und in meinem Blog-Ordner ein wenig „untergegangen“ ist der Beschluss des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs vom 21.04.2016 - 157-IV-15, den mir ein Leser übersandt hat, der die Entscheidung selbst erstritten hat.

Der auf eine Entscheidung des OLG Dresden in einem PKH-Bewilligungsverfahren ergangene Beschluss zeigt anschaulich, welche Möglichkeiten das „Rechtsmittel“ der (Landes-)Verfassungsbeschwerde im Zivilprozess bietet.

Sachverhalt

Die pflichtteilsberechtigte Klägerin hatte im Wege der Stufenklage von der Erbin Auskunft sowie Zahlung des sich aus der Auskunft ergebenden Pflichtteilsanspruchs verlangt. Das Landgericht hatte die Klage durch „Endurteil“ abgewiesen, weil das von der Beklagten vorgelegte Nachlassverzeichnis den gesetzlichen Anforderungen genügt habe. Die Kosten erlegte das Landgericht der Klägerin auf; einen Ausspruch zur Zulassung der Berufung enthielt die Entscheidung nicht. Den Streitwert setzte das Landgericht entsprechend der vorläufigen Angabe der Klägerin auf 6.000 EUR fest.

Innerhalb der Berufungsfrist beantragte die Klägerin beim Oberlandesgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die beabsichtigte Berufung gegen das landgerichtliche Urteil, mit der sie den Auskunftsantrag weiter verfolgte. Das Oberlandesgericht wies den Antrag zurück. Das Landgericht habe das Urteil zwar falsch bezeichnet, aber in der Sache nur über den Auskunftsanspruch und nicht über den Zahlungsanspruch entschieden. Der Wert des Beschwerdegegenstandes betrage 1/10 des erstrebten Zahlungsanspruchs; die in der Abweisung des Auskunftsantrags liegende Beschwer übersteige den Wert von 600 EUR (§ 511 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO) damit nicht. Auch sei die Entscheidung in der Sache richtig, weil die Klägerin allenfalls einen Anspruch auf Ergänzung des Verzeichnisses, nicht aber auf ein vollständig neues Verzeichnis habe.

Die gegen den Beschluss gerichtete Anhörungsrüge blieb erfolglos, wobei das OLG seine Entscheidung nun auf die zunächst angegebene Hilfsbegründung stützte und dies weiter ausführte. Daraufhin erhob die Klägerin Landesverfassungsbeschwerde zum Sächsischen Verfassungsgerichtshof und rügte u.a. die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör.

Mit einer Stufenklage gem. § 254 ZPO werden im Wege der objektiven Klagehäufung (§ 260 ZPO) ein Auskunfts- und ein Zahlungsanspruch miteinander verbunden (ggf. ergänzt um einen Anspruch auf eidesstattliche Versicherung der Richtigkeit der Auskunft, §§ 259 Abs. 2, 260 Abs. 2 BGB). Der Zahlungsanspruch wird dabei zunächst nicht beziffert.

Das Gericht entscheidet zunächst durch Teilurteil (§ 301 ZPO) über den Auskunftsanspruch (und ggf. durch weiteres Teilurteil über den Anspruch auf eidesstattliche Versicherung). Im Anschluss an die Auskunft kann die klagende Partei dann ihren Anspruch auf Grundlage der Auskunft beziffern, über den das Gericht dann durch Schlussurteil entscheidet. Die häufigsten Anwendungsfälle für Stufenklagen dürften Unterhaltsansprüche (weil der Unterhaltsberechtigte häufig das Einkommen des Unterhaltspflichtigen nicht kennt) und Pflichtteilsansprüche sein. Einen solchen hatte die Klägerin hier geltend gemacht und zunächst Auskunft über den Bestand des Nachlasses verlangt (§ 2314 Abs. 1 BGB).

Fehlt es schon an den Voraussetzungen des materiell-rechtlichen Anspruchs, weist das Gericht die Klage von Anfang an mit allen Anträgen durch Endurteil ab. So hatte das Gericht hier entschieden, aber gleichzeitig sein Urteil damit begründet, die Auskunft sei schon erteilt. Mit dieser Begründung hätte es aber nur durch Teilurteil (über den zunächst gestellten Auskunftsanspruch) entscheiden dürfen.

Der Klägervertreter wendete sich gegen diese Entscheidung und begehrte für die beabsichtigte Berufung Prozesskostenhilfe. Das Berufungsgericht wies diesen Antrag mit der Begründung ab, das Landgericht habe (trotz des anderen Anscheins) lediglich über den Auskunftsanspruch entschieden. Dessen Wert betrage aber nur 1/10 des Hauptsachestreitwertes, deshalb sei die Berufung unzulässig.

 
Entscheidung

Der Verfassungsgerichtshof hat beide Beschlüsse des OLG aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das OLG zurückverwiesen:

„Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden […] verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf rechtliches Gehör […].

1. Dieses Grundrecht gebietet, dass die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens die Gelegenheit erhalten, sich zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern; insbesondere müssen sie bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt erkennen können, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann […]. Zu einem Rechtsgespräch oder zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung ist das Gericht grundsätzlich nicht verpflichtet.

Ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör liegt indes vor, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis in seiner Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, der vorher nicht Gegenstand einer Erörterung gewesen ist und mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessvertreter – auch unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretener Rechtsansichten – nicht zu rechnen brauchte […].

2. Gemessen hieran hat das Oberlandesgericht in seinem Beschluss vom 7. Oktober 2015 das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin verletzt. […]

aa) Das Landgericht hatte in seinem Urteil […] die Klage abgewiesen und in den Tenor einen Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung aufgenommen, wie er bei Unstatthaftigkeit der Berufung nicht erforderlich gewesen wäre; auch verhielt sich das Urteil nicht zur Frage einer Berufungszulassung, wie sie bei Nichterreichens der genannten Summe in Betracht hätte kommen können (§ 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die Beschwerdeführerin – wiewohl rechtskundig vertreten – durfte angesichts dessen davon ausgehen, dass für das Landgericht das Erreichen der Berufungssumme und damit die Statthaftigkeit einer Berufung gegen sein Urteil kraft Gesetzes keinem Zweifel unterlag. Dies gilt umso mehr angesichts der Entscheidung des Landgerichts über die Abwendungsbefugnis nach § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

bb) Dass das Oberlandesgericht hernach in dem angegriffenen Beschluss das Urteil des Landgerichts – entgegen dessen Tenor und der Bezeichnung als Endurteil – lediglich als Teilurteil über den Auskunftsanspruch angesehen und den Zahlungsanspruch als noch beim Landgericht rechtshängig angesehen sowie daraus die der Beschwerdeführerin nachteiligen Folgerungen für die Frage des Erreichens der Berufungssumme gezogen hat, mag möglicherweise einfach-rechtlich noch vertretbar gewesen sein.

Diese Deutung und Folgerung lagen aber jedenfalls so wenig nahe, dass auch die rechtskundig vertretene Beschwerdeführerin mit ihnen nicht ohne einen vorherigen Hinweis des Oberlandesgerichts nebst Gelegenheit zur Stellungnahme konfrontiert werden durfte. […]

3. Mit der Aufhebung des Beschlusses des Oberlandesgerichts […] wird dessen auf die Anhörungsrüge hin ergangener Beschluss […] gegenstandslos. Denn dieser Beschluss hat die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch den Ausgangsbeschluss nicht auszuräumen vermocht.

Es überschreitet die Grenzen zulässiger Erwägungen in einem Gehörsrügebeschluss, zur Rechtfertigung des Ausgangsbeschlusses neue – zudem erst nachträglich entstandene – Argumente einzuführen, die mit der Begründung des Ausgangsbeschlusses in keinerlei Zusammenhang stehen und die nicht auf die Beseitigung des Gehörsverstoßes zielen. Das Gehörsrügeverfahren dient der – falls veranlasst – Selbstkorrektur der Fachgerichte, um die Verfassungsgerichte von der Prüfung und Sanktionierung von Gehörsverstößen zu entlasten. Dagegen ist es keine Verlängerung des fachgerichtlichen Ausgangsverfahrens.“

Anmerkung

Neben dem konkreten Fall sind m.E. die sich daraus ergebenden Folgerungen interessant. Denn neben dem Willkürverbot kann insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör in vielen zivilprozessualen Konstellationen ein verfassungsrechtlicher „Türöffner“ sein, wenn ordentliche Rechtsmittel nicht statthaft sind (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, § 26 Ziff. 8 EGZPO).

Den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt ein Gericht im Zivilprozess nach der Rechtsprechung des BGH und des BVerfG nämlich u.a. dann, wenn es

  • erheblichen Sachvortrag nicht berücksichtigt (s. nur BGH, Beschluss vom 24.3.2015VI ZR 179/13),
  • erheblichen Beweisanträgen nicht nachgeht (s. nur BVerfG, Beschluss vom 24.01.2012, 1 BvR 1819/10),
  • zu hohe Anforderungen an die Substantiierungspflicht stellt (s. jüngst BGH, Beschluss vom 01.03.2016 – VI ZR 49/15 und BGH, Beschluss vom 27.07.2016 - XII ZR 59/14),
  • gebotene Hinweise unterlässt (s. nur BGH, Beschluss vom 29. April 2014 - VI ZR 530/12),
  • Rechtsmittel nicht zulässt, obwohl die Voraussetzungen von § 511 Abs. 4 Nr. 1 ZPO oder § 574 Abs. 2 ZPO vorliegen (s. nur BVerfG, Beschluss vom 27.05.2016 - 1 BvR 345/16)
  • oder sonst prozessuale Fehler begeht, die zur Folge haben, dass das Gericht – folgerichtig – einen Beweis nicht erhebt (s. nur Beschluss vom 27.07.2016 - BGH XII ZR 125/14).

Ein ganz erheblicher Anteil aller prozessualen Fehler dürfte danach mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar sein.

Und da der Anspruch auf rechtliches Gehör auch in den meisten Landesverfassungen verankert ist und viele Landesverfassungen eine Individualverfassungsbeschwerde kennen, eröffnet sich neben dem sprichwörtlichen „Gang nach Karlsruhe“ eine weitere Rechtsschutzmöglichkeit. Und im Gegensatz zum BVerfG rühmen sich die Landesverfassungsgerichte teilweise sogar mit einer besonders kurzen Verfahrensdauer.

Anmerkung/Besprechung, Sächsischer Verfassungsgerichtshof , Beschluss vom 21.04.2016 - 157-IV-15. Foto: L.E.rewi-sor | wikimedia.org | CC BY-SA 3.0