Wie sinnvoll ist die Regelung des § 522 Abs. 2 ZPO?

geralt pixabay.de CC0Die Diskussion darüber, wie sinnvoll die Regelung in § 522 Abs. 2 ZPO ist, dürfte in etwa genau so alt sein, wie die Regelung selbst. RiBGH Prof. Dr. Gehrlein hat das Thema in einer der letzten NJW (NJW 2014, 3393) erneut aufgegriffen und plädiert dort nachdrücklich für eine Abschaffung der Regelung.

§ 522 Abs. 2 ZPO ist eine der wichtigsten Vorschriften des Berufungsrechts: Hält das Berufungsgericht die Berufung einstimmig für unbegründet (und misst es der Sache keine grundlegende Bedeutung bei), soll es die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss verwerfen. Der Berufungskläger ist zuvor darauf hinzuweisen, dass das Gericht beabsichtigt, nach § 522 Abs. 2 zu verfahren, Abs. 2 Satz 2.

Bis 2011 bestimmte § 522 Abs. 3 ZPO a.F., dass ein solcher Beschluss unanfechtbar sei. Seit Mitte 2011 ist gegen den Beschluss gem. §§ 522 Abs. 3, 544 ZPO die Nichtzulassungsbeschwerde statthaft (wenn die Beschwer 20.000 EUR übersteigt, § 26 Ziff. 8 EGZPO).

Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll § 522 Abs. 2 ZPO die Berufungsgerichte entlasten, indem richterliche Arbeitskraft nicht unnötig gebunden und Terminszeit für „wirklich verhandlungsbedürftige“ Fälle frei wird. Außerdem verhindere die Beschlusszurückweisung, dass eine rechtskräftige Entscheidung herausgezögert werde, wenn mit der mündlichen Verhandlung kein „Gewinn an Rechtsschutz“ verbunden sei.

Ob § 522 Abs. 2 ZPO diese Zwecke tatsächlich erfüllt, wird jedoch immer wieder bezweifelt.

Gehrleins Hauptargument ist, dass eine Zurückweisung durch Beschluss gar nicht mit einer Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung einhergehe. Damit verfehle die Regelung dann aber ihren eigentlichen Zweck.

Zur Begründung vergleicht Gehrlein den gerichtsinternen Ablauf eines Berufungsverfahrens im Falle einer mündlichen Verhandlung („Urteilsverfahren“) einerseits und einer Zurückweisung der Berufung durch Beschluss („Beschlussverfahren“) andererseits.

Beraume das Berufungsgericht Termin zur mündlichen Verhandlung an („Urteilsverfahren“), müsse der Berichterstatter sich nur dem Termin in die Sache einarbeiten und diese votieren. Vor dem Termin werde die Sache dann kurz vorberaten. Sei die Sache eindeutig, könne auf der Grundlage einer Nachberatung dann schon am Schluss der mündlichen Verhandlung eine Entscheidung verkündet werden. Dem Vorsitzenden sei es in der mündlichen Verhandlung außerdem viel eher möglich, den Berufungskläger zu einer Rücknahme zu bewegen oder aber eine gütliche Einigung herbeizuführen.

Beim „Beschlussverfahren“ seien hingegen mehrere Arbeitsdurchgänge erforderlich: Der Berichterstatter müsse sich schon unmittelbar mit Eingang der Berufungsbegründung einarbeiten, eine Beschlusszurückweisung gem. § 522 Abs. 2 ZPO prüfen und dann ggf. einen Hinweisbeschluss entwerfen. Dieser müsse dann beraten und ggf. ausgefertigt werden.

Nach Eingang der Stellungnahme müsse dann nochmals beraten und dann ein zweiter Beschluss gefertigt werden.

Diese „zwei Durchgänge“ dauerten nicht nur lange, sie seien auch fehleranfälliger. Soweit auf den Hinweisbeschluss neuer Vortrag folge, werde dieser häufig nicht sauber geprüft und ggf. gem. §§ 529, 531 ZPO zurückgewiesen. Dann sei er aber vom Berufungsgericht zugrunde zu legen. Im Fall der Nichtzulassungsbeschwerde müsse sich der Berichterstatter am BGH auch mit zwei Beschlüssen auseinandersetzen.

Zum letzten Argument werde ich vielleicht besser schweigen. Aber auch die weitere Kritik finde ich wenig überzeugend.

Das gilt insbesondere für das zeitliche Argument. Selbstverständlich vergehen zwischen Eingang der Berufungsbegründung und Erlass des endgültigen § 522 Abs. 2-Beschlusses mehrere Wochen. Und es sind auch zwei Kammer-/Senatsberatungen nötig (wobei die bei einfachen Fällen durchaus auch im sog. „Umlaufverfahren“ stattfinden können). Es geht aber trotzdem nur um wenige Wochen.

Beim Urteilsverfahren stellt sich hingegen schon das Problem, einen Termin für die mündliche Verhandlung zu finden. Denn Terminszeit ist nach meiner Kenntnis an den allermeisten deutschen Gerichten ein rares Gut. Eine Terminierung innerhalb einiger Wochen dürfte die absolute Ausnahme sein, realistischer ist eher eine Berechnung des „Vorlaufs“ in Monaten. Das Beschlussverfahren wird daher regelmäßig schon deutlich eher abgeschlossen sein, als die Kammer/der Senat überhaupt einen freien Termin hat. Und dann kommen noch die beinahe schon obligatorischen anwaltlichen Terminsverlegungsanträge hinzu, die den Termin noch weiter nach hinten verschieben.

Warum das „Urteilsverfahren" mit einer Beschleunigung einhergehen soll, erschließt sich mir daher nicht.

Ich kann aber auch nicht erkennen, dass das „Beschlussverfahren“ mit erheblichem Mehraufwand für den Berichterstatter verbunden ist: Auch im „Urteilsverfahren“ wird sich der Berichterstatter nämlich relativ zeitnah nach Eingang der Berufungsbegründung in die Sache einarbeiten müssen. Denn zum einen sollte vor der Terminierung feststehen, ob eine weitere Beweisaufnahme erforderlich ist. Und § 139 Abs. 4 Satz 1 Hs. 1 ZPO gilt nach meiner Kenntnis auch im Berufungsverfahren. Dass – wie Gehrlein offenbar annimmt – die Akten im Urteilsverfahren zunächst bis zum Termin liegenbleiben könnten und der Berichterstatter erst kurz vorher in die Akten schaut, erscheint mir wenig zweckdienlich. Ob der Berichterstatter dann schon früh ein Votum schreibt oder aber einen Hinweisbeschluss erlässt, dürfte keinen großen Unterschied machen.

M.E. ist und bleibt § 522 Abs. 2 ZPO daher eine sinnvolle Regelung. Und soweit das Verfahren teilweise fehleranfälliger sein mag, rechtfertigt allein dies nicht seine Abschaffung. Deutlich wichtiger wäre dann vielleicht, die Berufungskammern/-senate für die entsprechenden „Fallstricke“ zu sensibilisieren.

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