Zeugnisverweigerungsrecht des Anwalts nach Tod des Mandanten?

Wird ein Berufsgeheimnisträger nach dem Tod der durch das Zeugnisverweigerungsrecht geschützten Person als Zeuge benannt, stellt sich immer wieder die Frage, wer ggf. von der Schweigepflicht entbinden kann bzw. wann von einer mutmaßlichen Schweigepflichtentbindung des Verstorbenen auszugehen ist. Im Zusammenhang mit einem Erbrechtsstreit hat sich das OLG München in einem Zwischenurteil vom 24.10.2018 – 13 U 1223/15 kürzlich lesenswert mit dieser Frage befasst.

Sachverhalt

Die Parteien stritten vor dem Senat darüber, ob eine Formulierung im Testament des Erblassers als Vorausvermächtnis oder als Teilungsanordnung zu verstehen war. Der Erblasser hatte sein Testament selbst (handschriftlich) errichtet, nachdem er zuvor von einem Anwalt erbrechtlich beraten worden war. Auf das Zeugnis dieses Anwalts berief sich nun eine der Parteien zum Beweis des von ihr behaupteten Willens des Erblassers. Der Zeuge verweigerte jedoch unter Berufung auf seine anwaltliche Schweigepflicht die Aussage und erklärte, dass keine Anhaltspunkte für eine Entbindung von der Schweigepflicht bestünden. Der Erblasser habe im Rahmen der Beratung auf eine besondere Geheimhaltung bestanden und z.B. erklärt, dass keine Post zu ihm nach Hause gesandt werden solle.

Zivilprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte ergeben sich aus §§ 383 Abs. 1 Nr. 1-6 und § 384 Ziff. 1-3 ZPO (im Gegensatz zur StPO unterscheidet die ZPO nicht zwischen Aussageverweigerungs- und Zeugnisverweigerungsrechten). Als Anwalt stand dem Zeugen hier grundsätzlich ein Zeugnisverweigerungsrecht aus § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu, woran der Tod des Erblassers grundsätzlich nichts änderte. Allerdings stellte sich die Frage, ob sich der Zeuge im konkreten Fall auf sein Zeugnisverweigerungsrecht berufen durfte. Das wäre nicht der Fall, wenn entweder der Erblasser oder aber die – hier ja streitenden – Erben den Zeugen von seiner Verschwiegenheitspflicht entbunden hätten (vgl. § 385 Abs. 2 ZPO). Außerdem stellte sich die Frage, ob der Zeuge seine Zeugnisverweigerung ausreichend begründet hatte. Denn er war nicht zur Zeugnisverweigerung berechtigt, wenn eine Aussage dem mutmaßlichen Willen des Erblassers entsprechen würde. Verfahrensrechtlich war über die Rechtsmäßigkeit der Zeugnisverweigerung in einem sog. „Zwischenstreit“ (an dem die beweisführende Partei und der Zeuge beteiligt sind) durch Zwischenurteil (§ 387 ZPO) zu entscheiden.

Entscheidung

Der Senat hat festgestellt, dass dem Zeugen kein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht:

„Gemäß § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO steht dem Rechtsanwalt ein Zeugnisverweigerungsrecht in Bezug auf alle Tatsachen zu, die ihm im Rahmen eines Mandatsverhältnisses anvertraut wurden. Anvertraut sind nicht nur Tatsachen, bei denen der Wunsch nach Vertraulichkeit ausdrücklich ausgesprochen wird; es genügt auch das stillschweigende Verlangen nach Geheimhaltung (…). Das Zeugnisverweigerungsrecht betrifft nicht nur schriftliche oder mündliche Mitteilungen, sondern es erstreckt sich auch auf alle sonstigen Umstände, die der Rechtsanwalt aufgrund und im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit erfährt (…). Dem Zeugnisverweigerungsrecht im Prozess entspricht eine Pflicht zur Verschwiegenheit dem Mandanten gegenüber, deren Verletzung gemäß § 203 Abs. 1 Nr 3 StGB mit Strafe bedroht ist."

Die Recht, den Zeugen von seiner Schweigepflicht zu entbinden (§ 385 Abs. 2 ZPO), sei auch nicht auf die Erben übergegangen:

„Dabei wirkt die Schweigepflicht grundsätzlich über den Tod des Mandanten hinaus (…). Das Verfügungsrecht geht nicht auf die Erben über (…), da die Pflicht zur Verschwiegenheit dem Schutz der Geheimsphäre des Einzelnen dient. Deshalb kann grundsätzlich nur derjenige von der Schweigepflicht entbinden, zu dessen Gunsten sie besteht (…).

Soweit die Auffassung vertreten wird, da Vermögensrechte vererblich seien, gelte dies auch für das Recht, von der Geheimhaltung vermögenswerter Interessen zu entbinden (…), ist allerdings zu differenzieren: Der Erblasserwille hat grundsätzlich vermögensmäßige Auswirkungen. Allerdings können die Motive des Erblassers, die zu seiner letztwilligen Verfügung führen, höchstpersönlicher Natur sein. Eine klare Trennung von Umständen, die der persönlichen (Intims-) Sphäre zuzurechnen sind, von solchen, die ausschließlich Vermögensinteressen betreffen, wird vielfach kaum möglich sein. Im Übrigen verkörpert der Erblasserwille als solcher – anders zum Beispiel als ein Betriebsgeheimnis – keinen Vermögenswert. Schon aus diesen Gründen kann die Disposition über das Geheimnis nicht auf die Erben übergehen (…)“

Der Zeuge habe jedoch nicht ausreichend dargelegt, warum nicht von einer mutmaßlichen Entbindung von der Schweigepflicht auszugehen sei:

„b) Der Rechtsanwalt, dem im Rahmen eines Mandatsverhältnis ein Geheimnis anvertraut wurde, muss nach dem Tod seines Mandanten nach pflichtgemäßem Ermessen darüber entscheiden, ob er im Zivilprozess gem. § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht oder ob er aussagt und auf diese Weise Vertrauliches offenbart. Er befindet sich dabei im Spannungsfeld zwischen dem (mutmaßlichen) Willen des ehemaligen Mandanten und der Gefahr der eigenen Strafverfolgung (§ 203 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 StGB).

Soweit es an einer Willenserklärung des Erblassers fehlt, ist der mutmaßliche Wille des Erblassers zu erforschen (…). Dabei verbleibt dem Geheimnisträger ein Entscheidungsspielraum, der durch die Gerichte nur eingeschränkt nachprüfbar ist. Allerdings darf der Geheimnisträger seine Entscheidung nicht nur mit allgemeinen Erwägungen begründen. Vielmehr kann das Gericht die Grenzen des Ermessens nur prüfen, wenn der Zeuge darlegt, auf welche Belange er die Zeugnisverweigerung stützt (…).

c) Der Zeuge hat im hier zu entscheidenden Fall nicht ausreichend konkret dargetan, auf welchen maßgeblichen Erwägungen seine Entscheidung beruht, das Zeugnis zu verweigern. Im vorliegenden Fall ist für den Senat nicht nachvollziehbar, inwieweit der Zeuge eine konkrete, einzelfallbezogene Ermessensentscheidung getroffen hat. Die bloße Berufung darauf, dass keine objektivierbaren Erkenntnisse gegeben seien, die eine Entbindung von der anwaltlichen Schweigepflicht rechtfertigen würden, ist zu pauschal und letztlich nur floskelhaft. Die Begründung der Entscheidung des Zeugen lässt nach Auffassung des Senats nicht erkennen, dass bzw. inwieweit der Zeuge erwogen hat, ob es dem mutmaßlichen Willen des Erblassers entspricht, in der konkreten Situation des Rechtsstreits vom Schweigerecht Gebrauch zu machen oder aber zur Frage des mutmaßlichen Erblasserwillens auszusagen.

Dass der Zeuge zusätzlich noch dargetan hat, der Mandant habe nicht gewollt, dass Schriftstücke zu ihm nach Hause gesandt werden, ändert daran nichts, denn dies lässt noch keinen Rückschluss auf den mutmaßlichen Willen des Erblassers in Bezug auf eine Aussage des Zeugen bzw. die weitere Geheimhaltung zu. (…)

Zu berücksichtigen ist im vorliegenden Fall auch, dass der Zeuge (…) nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand ein (wenn nicht das) entscheidende Beweismittel für die Erforschung des mutmaßlichen Erblasserwillens ist. In einer solchen Konstellation ist der Zeuge gehalten, besonders sorgfältig abzuwägen, ob nicht die Offenbarung seiner Kenntnisse über die Motive und den Willen des Erblassers gerade in dessen Interesse sein kann.

Der Senat verkennt nicht, dass die anwaltliche Schweigepflicht ein hohes Gut ist. Das erkennende Gericht in einem Zivilrechtsstreit darf sich deshalb nicht leichtfertig über die Entscheidung des Zeugen, sich auf seine Verschwiegenheitspflicht zu berufen, hinwegsetzen. Andererseits muss es die Möglichkeit haben, zu erkennen, dass die Entscheidung überhaupt aufgrund einer individuellen Abwägung der konkreten Umstände des Einzelfalls erfolgte. Genau dies vermag der Senat im vorliegenden Fall aber nicht. Deshalb war zu entscheiden, dass dem Zeugen kein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht zusteht.“

Anmerkung

Inhaltlich bringt die Entscheidung nichts wirklich Neues, wiederholt aber lesenswert die geltende Rechtslage, die im Grundsatz für alle unter § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO fallenden Personen, also insbesondere auch für Ärztinnen und Ärzte gelten dürfte (vgl. § 203 Abs. 1 StGB). Und sie bietet m.E. eine dogmatisch überzeugende Verankerung der Problematik im Rahmen der Darlegungslast des Zeugen. Denn die Voraussetzungen des Zeugnisverweigerungsrechts sind vom Zeugen darzulegen und ggf. glaubhaft zu machen (§ 386 Abs. 1, 2 ZPO. Ist der Betroffene verstorben, sollte deshalb zusammen mit einer Zeugnisverweigerung gem. § 386 Abs. 1, 2 ZPO auch dargelegt und ggf. glaubhaft gemacht werden, dass die Zeugnisverweigerung im Interesse des Betroffenen liegt und dass nicht von einer mutmaßlichen Schweigepflichtentbindung auszugehen ist. Das dürfte jedenfalls dann gelten, wenn ernsthaft in Betracht kommt, dass eine Aussage des Zeugen im Interesse des Verstorbenen sein könnte. In einer Hinsicht ist die Entscheidung jedoch bemerkenswert, nämlich soweit das Gericht über die Zulassung der Rechtsbeschwerde entschieden (und die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen) hat. Denn gegen das Zwischenurteil eines Oberlandesgerichts oder eines Landgerichts als Berufungsinstanz ist keine Rechtsbeschwerde statthaft, selbst wenn diese zugelassen wurde, wie der BGH jüngst erneut entschieden hat. tl;dr: Die Schweigepflicht des Rechtsanwalts wirkt grundsätzlich über den Tod des Mandanten hinaus. Das Verfügungsrecht geht nicht auf die Erben über, da die Pflicht zur Verschwiegenheit dem Schutz der Geheimsphäre des Einzelnen dient. Soweit es an einer Willenserklärung des Erblassers fehlt, ist vom Zeugen konkret darzulegen, warum die Zeugnisverweigerung dem mutmaßlichen Willen des Erblassers entspricht. Anmerkung/Besprechung, OLG München, Zwischenurteil vom 24.10.2018 – 13 U 1223/15. Foto: AHert | OLG Muenchen-02 | CC BY-SA 3.0