„Zivilprozesskritik“ auf ZEIT ONLINE - Ohne Sachkunde lässt es sich besser schimpfen

Dierk Schäfer flickr.com CC BY 2.0Auf ZEIT ONLINE findet sich seit Donnerstag ein bemerkenswerter Artikel des Münchner Rechtsanwalts Luc Weinmann, in dem dieser sich kritisch mit dem Zustand des deutschen Zivilprozesses, der Ziviljustiz und des Zivilprozessrechts befasst.

Die Bestandsaufnahme des Autors fällt vernichtend aus: Die Praxis des Zivilprozesses sei von effektiver, schneller, billiger und humaner Rechtspflege weit entfernt. So werde beispielsweise die Regelung in § 278 Abs. 1 ZPO nicht ernst genug genommen, gut begründete gerichtliche Vergleichsvorschläge seien die Ausnahme. Die „geradezu inzestuöse Personalauswahl“ der Justiz bervorzuge „immer noch den kühlen Rechtstechnokraten und Paragrafenreiter statt der unabhängigen und mit Rückgrat ausgestatteten Persönlichkeit“. Vor Gericht würden die Bürger „ihrer Konflikte enteignet und zugunsten einer privaten Rechtsfortbildung von Anwälten und Richtern missbraucht“. Die „selbst ernannte juristische Elite“ solle einmal auf ihr Publikum hören, „ein weißes Blatt Papier in die Hand [...] nehmen und die Verfahrensordnungen vollständig auf den Prüfstand [...] stellen“. Erforderlich seien beispielsweise Zivilprozesse „über nur eine Instanz mit nur einem gut vorbereiteten Termin“ und sog. Pendelschlichtungen, bei der beide Parteien ein Angebot formulieren und der Richter sich für einen der beiden Vorschläge entscheiden muss.

Welche persönliche Enttäuschung dem Autor bei manchen Passagen die Feder geführt hat, lässt sich bei der Lektüre nur erahnen. Ganz deutlich wird hingegen, dass dem Artikel ein wenig mehr Sachkunde des Autors wohl nicht geschadet hätte.

Zunächst scheint der Autor einem ganz grundlegenden Missverständnis zu unterliegen: Rechtsprechung in Zivilsachen mag zwar in gewissem Maße auch staatliche Dienstleistung sein, Rechtsprechung ist aber immer auch Ausübung hoheitlicher Gewalt und kann daher niemals grenzenlos zur Disposition der Parteien stehen. Beliebigen Verfahrensstraffungen steht insbesondere der mit Verfassungsrang ausgestattete Anspruch auf rechtliches Gehör entgegen. Dass die Parteien dadurch „vor Gericht ihrer Konflikte enteignet" werden, ist somit geradezu zwingend. Wollen sie sich damit nicht abfinden, steht ihnen schon heute die Möglichkeit offen, ihren Rechtsstreit vor einem Schiedsgericht auszutragen. Damit bleiben sie weitgehend Herren des eigenen Verfahrens und können dem Schiedsgericht in sehr weitem Maße die Verfahrensordnung vorgeben (deren Teil dann beispielsweise das auch unter dem Namen „Baseball Arbitration“ bekannte Pendelvergleichsverfahren sein kann).

Dieses grundlegende Missverständnis darf aber nicht den Blick auf die zwar allseits bekannte aber gleichwohl unzweifelhaft zutreffende Erkenntnis verstellen, dass manche Zivilprozesse trotz aller Reformen viel zu lange dauern. Mehrere Jahre auf eine (erstinstanzliche) Entscheidung zu warten ist das Gegenteil bürgernaher Justiz. (Interessanterweise zeigt das schon zehn Jahre dauernde „Toll Collect“-Schiedsverfahren, dass eine lange Verfahrensdauer nicht allein ein Problem staatlicher Justiz ist.)

Den geringsten Anteil an einer langen Verfahrensdauer dürfte aber die Zivilprozessordnung haben. Denn diese ist – worauf der Autor völlig zu Recht hinweist – in den letzten Jahrzehnten vielfach überarbeitet worden, um damit Prozesse zu beschleunigen. Die ZPO in ihrer heutigen Fassung steht schnellen, auf eine einvernehmliche Beilegung gerichteten Prozessen nicht entgegen, sie fordert diese vielmehr ausdrücklich, wie sich beispielsweise in § 278 Abs. 1 ZPO, in § 272 Abs. 1 ZPO und in § 272 Abs. 3 ZPO zeigt. Was genau in der vom Autor geforderten „neuen ZPO“ stehen soll, bleibt denn auch offen. Soweit sich der Autor beispielsweise Prozesse über nur eine Instanz wünscht, hätte ihm eine Lektüre der aktuellen Zivilprozessordnung schon geholfen: Wie sich aus § 515 ZPO unzweifelhaft ergibt, können die Parteien schon heute vor Prozessbeginn auf Rechtsmittel gegen das erstinstanzliche Urteil verzichten und den Rechtsstreit damit auf eine Instanz beschränken.

Wenn aber sämtliche Zivilprozessreformen der letzten Jahrzehnte nicht zum gewünschten Erfolg geführt haben, so liegt es nahe, dass damit bislang an der falschen Stellschraube gedreht wurde. Mit den Ursachen überlanger Zivilprozesse hat sich z.B. auch  der 70. Deutsche Juristentag beschäftigt und dazu mehrere wegweisende Beschlüsse gefasst (s. hier ab Seite 5). Das ist dem Autor anscheinend unbekannt oder wird von ihm leichthin unterschlagen. Die Reformvorschläge des 70. DJT laufen konsequnterweise weniger auf eine Überarbeitung der ZPO, sondern vielmehr auf eine Überarbeitung des GVG hinaus: So sollen für bestimmte Sachgebiete zwingende Spezialzuständigkeiten geschaffen werden, Präsidien sollen die Möglichkeit erhalten, sehr umfangreiche Verfahren Spruchkörpern abweichend vom Geschäftsverteilungsplan zuzuweisen und es soll die Möglichkeit geschaffen werden, unter Verzicht auf eine Instanz eine Klage unmittelbar beim Berufungsgericht zu erheben.

Auch das wird aber, sollten die Beschlüsse umgesetzt werden, nur Teil der Lösung sein. Denn das Problem überlanger Verfahren ist nicht nur rechtstheoretischer, sondern mindestens ebenso auch rechtstatsächlicher Natur. Rechtsfindung ist – und (nur) soweit ist dem Autor teilweise zuzustimmen – nicht nur Erkenntnis-, sondern ebenso stets auch Willensakt. Dringend erforderlich wäre daher Rechtstatsachen- und Justizforschung, die sich diesem „Willensanteil“ an der Rechtsfindung näher zuwendet und untersucht, warum dieser Willensakt manchmal nur schwer und nur spät gelingt.

Und ohne den Ergebnissen solcher Forschung vorgreifen zu wollen: Neben der Personalauswahl der Justiz dürfte auch ein Zusammenhang nachzuweisen sein zwischen den Rahmenbedingungen, unter denen Justiz arbeitet, und der Frage, wie gut und schnell der erforderliche „Willensakt“ gelingt.

Foto: Dierk Schäfer/Justitia | flickr.com | CC BY-2.0