LAG Düsseldorf zum „anderen Ort“ i.S.d. § 128a ZPO

Mit einem aktuellen Beschluss vom 13.01.2021 - 12 Sa 453/20 hat sich das LAG Düsseldorf mit mehreren im Rahmen von § 128a ZPO und den entsprechenden Parallelnormen in den anderen Verfahrensordnungen befasst. In dem Beschluss begründet das LAG insbesondere äußerst ausführlich, wo der „andere Ort“ sein kann und nimmt außerdem dazu Stellung, ob dieser in dem gestattenden Beschluss vorzugeben ist und wohin zu laden ist.

Sachverhalt

In dem anhängigen Berufungsverfahren hatte der Vorsitzende den Parteien und ihren Bevollmächtigten durch Beschluss vom 14.12.2020 von Amts wegen gestattet, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Davon haben beide Parteivertreterinnen Gebrauch gemacht. Dabei hatte es den „anderen Ort“ in dem Beschuss nicht vorgegeben. Die Parteien und ihre Prozessbevollmächtigten nahmen jeweils aus ihren Kanzleiräumen bzw. anderen privaten Räumlichkeiten teil.

Gem. § 128a ZPO kann das Gericht den Prozessbeteiligten gestatten, sich während der Verhandlung bzw. während ihrer Vernehmung an einem anderen Ort aufzuhalten. Dabei ist in der Literatur umstritten, ob dieser „andere Ort“ ein Gerichtssaal (eines anderen Gerichts) oder jedenfalls ein vom Gericht zur Verfügung gestellter Raum sein muss oder ob dies auch anderer (private) Räume sein können.

Entscheidung

Das LAG stellt zunächst klar, dass sich aus § 128a ZPO keine näheren Anforderungen an den „anderen Ort“ ergeben:

„Die Parteivertreterinnen haben die Berufungsanträge wirksam in öffentlicher Verhandlung im Wege der gestatteten Bild- und Tonübertragung gemäß § 128a Abs. 1 ZPO, zugeschaltet aus der Kanzlei bzw. dem Homeoffice, gestellt. (...)

Die Zuschaltung der Parteivertreterinnen aus der Kanzlei bzw. dem Homeoffice steht im Einklang mit § 128a Abs. 1 ZPO (…). Soweit vertreten wird, dass es sich bei dem „anderen Ort“ i.S.v. § 128a Abs. 1 ZPO um einen Gerichtsaal bzw. vom Gericht zur Verfügung gestellten Raum handeln muss (…), folgt dem die erkennende Kammer nicht. Dies ergibt die Auslegung von § 128a Abs. 1 ZPO.

a) Maßgebend für die Gesetzesauslegung ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers. Zu dessen Ermittlung sind der Wortlaut der Norm, die Systematik, der Sinn und Zweck sowie die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte Unter diesen anerkannten Methoden hat keine unbedingten Vorrang. Welche Regelungskonzeption der Gesetzgeber mit dem von ihm gefundenen Wortlaut tatsächlich verfolgt, ergibt sich unter Umständen erst aus den anderen Auslegungsgesichtspunkten. Wird daraus der Wille des Gesetzgebers klar erkennbar, ist er zu beachten (…). Dabei ist der Wortlaut (lediglich) Ausgangspunkt der Auslegung. Die Feststellung, dass der Wortlaut eindeutig ist, stellt das Ergebnis der Auslegung dar. Ein Text ist immer mehrdeutig. Es besteht für jeden Normgeber die Schwierigkeit, textlich Eindeutigkeit herzustellen (…).

b) Auszugehen ist vom Wortlaut des § 128a Abs. 1 ZPO. Dieser spricht davon, dass das Gericht es den Parteien und ihren Bevollmächtigten gestatten kann, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Der andere Ort erfährt im Gesetzestext keine inhaltliche Eingrenzung. Eine Beschränkung auf eine Gerichtsstelle lässt sich daraus nicht entnehmen.

Bereits in der Vorschrift des § 128a Abs. 1 ZPO differenziert der Gesetzgeber zwischen verschiedenen Örtlichkeiten. So wird in § 128a Abs. 1 Satz 2 ZPO das Sitzungszimmer neben dem anderen Ort genannt. Für den Terminort nennt der Gesetzgeber in § 219 Abs. 1 ZPO die Gerichtsstelle. Wenn er dann in § 128a Abs. 1 ZPO ebenso wie in § 128a Abs. 2 ZPO ohne weitere Eingrenzung von einem anderen Ort spricht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass er den anderen Ort auf einen Gerichtssaal oder einen vom Gericht zur Verfügung gestellten Raum begrenzen wollte.

Dem entspricht der Wille des Gesetzgebers. Im Zusammenhang mit der Begründung des Gesetzes zur Intensivierung von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltlichen Verfahren geht er davon aus, dass mit der Bereitstellung der Technik vor allem der Anwaltschaft in geeigneten Fällen Gelegenheit geboten wird, an gerichtlichen Verfahren ohne Reisetätigkeit aus der eigenen Kanzlei heraus oder von durch die Justizverwaltungen bereitgestellten Videokonferenzanlagen aus teilzunehmen (BT-Drs. 17/1224 S. 12). Dem entspricht es, wenn der Gesetzgeber weiter ausführt, dass der wirtschaftlich denkende Rechtsanwalt den Zeitvorteil und die ersparten Reisekosten den Anschaffungskosten einer Videokonferenzanlage oder webbasierender Übertragungstechnik gegenüberstellt (BT-Drs. 17/224 S. 12).

All dies ergibt nur dann Sinn, wenn der andere Ort nicht auf die Gerichtsstelle oder vom Gericht zur Verfügung gestellte Räumlichkeiten begrenzt ist. Soweit gemäß § 160 Abs. 1 Nr. 4 ZPO der Ort, von dem aus die Teilnahme gemäß § 128a ZPO an der Verhandlung erfolgt, in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen ist, lässt sich daraus kein gegenteiliger Schluss ziehen. Handelte es sich ohnehin um eine Gerichtsstelle oder einen vom Gericht bereitgestellten Raum, wäre dies eher überflüssig und nicht sinnvoll (vgl. BT-Drs. 14/6036 Festhalten des Ortes „erscheint sinnvoll“).

c) Die gesetzlichen Grundanforderungen an eine Gerichtsverhandlung stehen diesem Verständnis von § 128a Abs. 1 ZPO nicht entgegen. Die Öffentlichkeit (§ 169 GVG) wird an der Gerichtsstelle hergestellt (…). Dies ist auch vorliegend erfolgt, indem die Parteivertreterinnen durch zeitgleiche Bild- und Tonübertragung in den Sitzungsaal der erkennenden Kammer übertragen wurden und die Öffentlichkeit – was, ohne dass es darauf ankommt, auch erfolgte - die Verhandlung auf einem Bildschirm in Ton und Bild verfolgen konnte. Auf die Frage, ob eine bloße Tonübermittlung ausreichend ist, kam es mithin nicht an. Durch die von der erkennenden Kammer vorgenommenen Auslegung des Begriffs des anderen Orts in § 128a Abs. 1 ZPO wird die Gerichtsverhandlung nicht partiell in den privaten Bereich verlegt (vgl. dazu BGH 30.03.2004 – VI ZB 81/03, juris Rn. 8). Selbst wenn Verfahrenshandlungen vom privaten Bereich aus vorgenommen werden, wird dadurch die Gerichtsverhandlung nicht in den privaten Bereich verlegt. Diese findet letztlich für die Öffentlichkeit kontrollierbar insgesamt an der Gerichtsstelle statt, nur dass die Präsenz der Parteien, Bevollmächtigten bzw. Zeugen durch die Bild- und Tonübertragung hergestellt wird.

Dem entspricht, dass § 128a Abs. 2 ZPO zur Vernehmung eines Zeugen dann anzuwenden sein kann, wenn dieser aufgrund ärztlichen Attestes aus gesundheitlichen Gründen auf unabsehbare Zeit nicht vor Gericht erscheinen kann. Bleibt u.a. die Möglichkeit, einen solchen Zeugen außerhalb der Gerichtsstelle im Wege der Bild- und Tonübertragung zu vernehmen, ist er nicht unerreichbar (vgl. dazu BGH 01.07.2010 – V ZR 238/09 Rn. 7). Der Anspruch der Parteien auf Mündlichkeit und rechtliches Gehör wird durch die Teilnahme mittels Bild- und Tonübertragung gewahrt (…).

d) Richtig ist, dass auch bei Anwendung des § 128a ZPO durch das Gericht sichergestellt werden muss, dass eine ordnungsmäße und dem Wesen einer Gerichtsverhandlung angemessene mündliche Verhandlung durchgeführt wird. Die Kammer verkennt nicht, dass bei Nutzung der Bild- und Tonübertragung durchaus Gefahren bestehen. So besteht eher die Gefahr der Beeinflussung durch Dritte, einer verbotenen Aufzeichnung oder einer manipulierten Kameraeinstellung (…).

Dies führt indes zu keinem anderen Auslegungsergebnis. Die Gefahr der Beeinflussung durch Dritte und auch des Mitschnitts besteht auch im Sitzungsaal, wie die Aufzeichnungen von Gerichtsverhandlungen z.B. durch Reichsbürger zeigen. Richtig ist zwar, dass dies im Gerichtsaal leichter zu erkennen sein mag. Wenn aber der Gesetzgeber die Bild- und Tonübertragung an einen anderen Ort in § 128a Abs. 1 und §128a Abs. 2 ZPO zulässt, dann kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Bild- und Tonübertragung eher innewohnende Gefahren dazu führen, den Begriff des „anderen Ortes“ entgegen Gesetzeswortlaut und gesetzgeberischem Willen einzuschränken. Vielmehr wird das Gericht seinerseits dafür zu sorgen haben, dass eine ordnungsmäße und dem Wesen einer Gerichtsverhandlung angemessene mündliche Verhandlung durchgeführt wird (vgl. a. Mantz/Spoenle MDR 2020, 637, 639 Rn. 16: „das muss die Praxis zeigen“).

Wo dies nicht der Fall ist, d.h. z.B. kein angemessener Ort gewählt wird (Schwimmbad, Kneipe, Fußballplatz) oder sonst eine große Zuschauerzahl teilnimmt, kann die Bild-und Tonübertragung unter- oder abgebrochen werden. In Betracht kommt gemäß §§ 176 Abs. 1, 177, 178 GVG die Anwendung von Ordnungsmitteln (…). Dies kann man aus einem Erst-Recht-Schluss aus § 180 GVG ableiten (…) oder aber damit begründen, dass die Bild- und Tonübertragung gemäß § 128a ZPO nur dazu dient, die Verfahrenshandlung an die Gerichtsstelle zu übermitteln. Damit werden sämtliche Handlungen, die im Wege der Bild- und Tonübertragung in den Sitzungsaal übertragen werden, auf digitale Weise Gegenstand der Sitzung. Wer so vermittelt die Sitzung stört, macht sich in der Sitzung einer Ungebühr schuldig.

e) Letztlich wird das von der erkennenden Kammer zu Grunde gelegte Verständnis des anderen Ortes i.S.v. § 128a Abs. 1 ZPO durch die Gesetzeshistorie des zum 31.12.2020 ausgelaufenen § 114 ArbGG in der Fassung des Art. 2 des Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vom 20.5.2020 (Sozialschutz-Paket II, BGBl. I S. 1055) bestätigt. Die Vorschrift knüpfte in § 114 Abs. 1 und 2 ArbGG an die Regelung des § 128a ZPO an und erstreckte sie auf die ehrenamtlichen Richter (…). Der Gesetzgeber hatte es den ehrenamtlichen Richtern gestattet, der mündlichen Verhandlung von „einem anderen Ort“ aus beizuwohnen, wenn es aufgrund der epidemischen Lage unzumutbar sei, persönlich an der Gerichtsstelle zu erscheinen. Der andere Ort ist ausweislich des Textes von § 114 ArbGG der Gegensatz zur Gerichtsstelle.

Wenn der andere Ort nicht grundsätzlich einschränkungslos zu verstehen wäre, hätte es weiter nicht der Ausführung in der Gesetzesbegründung bedurft, dass der ehrenamtliche Richter sich während der Beratung nicht etwa an einem öffentlichen Ort aufhalten darf (BT-Drs. 19/18996 S. 30), was durch § 114 Abs. 2 ArbGG gesichert wurde. Der Umstand, dass der Gesetzgeber § 114 ArbGG inmitten der epidemischen Lage hat auslaufen lassen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Die Ausführungen in der Gesetzesbegründung zu § 114 ArbGG zeigen das grundlegende Verständnis des Gesetzgebers vom Begriff des anderen Ortes. Der Umstand, dass § 114 ArbGG nicht verlängert wurde, belegt im Übrigen, dass der Gesetzgeber die Anwendung von § 128a ZPO in der epidemischen Lage für ausreichend erachtet hat. Dies wiederum spricht dafür, dass mit der ursprünglichen Gesetzesbegründung und dem Wortlaut des Gesetzes der Begriff des „anderen Ortes“ nicht auf den Gerichtsaal oder vom Gericht zur Verfügung gestellte Räumlichkeiten begrenzt ist, weil dies in einer epidemischen Lage auch Art. 19 Abs. 4 GG gebietet. In besonderen Lagen – wie derzeit – kann die audiovisuelle Verhandlung so zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Justiz und zum Schutz der Individualrechtsgüter von Gerichtspersonen, Parteien, Bevollmächtigten und Zeugen genutzt werden (…).“

Und dann nimmt die Kammer noch zu weiteren im Rahmen von § 128a ZPO streitigen Fragen Stellung:

„Aber selbst wenn ein Verstoß gegen § 128a Abs. 1 ZPO vorliegen sollte, ändert dies an der wirksamen Antragstellung nichts. Es handelte sich bei einem Verstoß gegen den „anderen Ort“ i.S.v. § 128a Abs. 1 ZPO um einen Verstoß gegen eine Ordnungsvorschrift, welche die wirksame Antragstellung unberührt lässt.

Nichts anderes gilt für die Frage, ob in dem Beschluss des Vorsitzenden (…) zur Gestattung Bild- und Tonübertragung der andere Ort zu bestimmen ist (…), was die erkennende Kammer verneint.

Ort der Verhandlung ist und bleibt der Gerichtssaal. Dorthin werden die Parteien geladen. Ihnen wird gemäß § 128a ZPO lediglich gestattet, sich an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Entscheidend ist auch für § 377 Abs. 2 Nr. 3 ZPO nicht der Ort, von dem aus die Personen sich zuschalten, sondern der Ort, zu dem oder in den die Parteien, die Bevollmächtigten oder Zeugen sich zuschalten. Dort müssen sie im Wege der Bild- und Tonübertragung erscheinen.

Dazu muss nicht der Ort, von dem aus dies erfolgt, vorgegebenen werden. Vielmehr muss – wie von dem Gericht getan – der technische Weg mittels Zugangsdaten zum virtuellen Meetingsraum nebst Anleitung zu dessen Benutzung übermittelt werden. Letztlich kommt es darauf – wie ausgeführt – nicht an, denn selbst wenn die Mitteilung des anderen Ortes im Beschluss erforderlich wäre, ließe dies die ordnungsgemäße Antragstellung unberührt.“

Anmerkung

Das ist eine für die Praxis äußerst wichtige Klarstellung gleich mehrerer relevanter Fragen, zu denen sich in den einschlägigen Kommentierungen kaum befriedigende Antworten finden. Die hier vom LAG übernommene Definition des anderen Ortes hat übrigens auch schon der Kollege Frank Schreiber in einem Gastbeitrag für das Blog quasi „vorgedacht“. Und warum es sinnvoll ist, zum Gerichtsort zu laden, den „andere Ort“ im gestattenden Beschluss nicht vorzugeben - und was das für die Säumnis heißt, steht übrigens ausführlich auch in der NJW 2020, 2753 Rn. 16 f., 23, 24 ff. tl;dr: 1. Der „andere Ort“ i.S.d. § 128a Abs. 1 oder 2 ZPO muss nicht ein Gerichtssaal oder ein vom Gericht zur Verfügung gestellter Raum sein. 2. Der „andere Ort“ muss im gestattenden Beschluss des Gerichts nicht vorgegeben werden. 3. Die Beteiligten sind an die Gerichtsstelle i.S.d. § 219 ZPO zu laden, nicht an den anderen Ort. Anmerkung/Besprechung, LAG Düsseldorf, Beschluss vom 13.01.2021 – 12 Sa 453/20. Foto: Photo by Sam McGhee on Unsplash