Zwischen Küchentisch und Fernsehanstalt: Wo ist eigentlich der „andere Ort“ i.S.d. § 128a ZPO?

Seit fast zwei Jahrzehnten sind die Rechtsgrundlagen der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz als ein Element der Digitalisierung der Justiz in der Zivilprozessordnung geregelt. Zwei Jahrzehnte sind angesichts der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts eine Ewigkeit. Nur zur Illustration: Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Urfassung des § 128a ZPO zum 01.01.2002 ging der Verfasser als Richter auf Probe am Landgericht Darmstadt noch für jede Juris-Recherche in die Bibliothek und recherchierte via Modem mit individueller Telefoneinwahl. Der nachfolgende Beitrag ist ein Plädoyer, den aktuellen Stand der Technik bei der Auslegung des Prozessrechts hinreichend zu berücksichtigen. „Alte Zöpfe“ sind insbesondere beim Begriff des „anderen Ortes“ abzuschneiden – nicht zuletzt angesichts der Erfordernisse an einen effektiven Rechtsschutz in Zeiten der COVID-19-Pandemie.

I. Zum Begriff des „anderen Ortes“: Against Originalism

Nach § 128a ZPO kann das Gericht u.a. den Parteien gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten, wohin die Verhandlung zeitgleich in Bild und Ton übertragen wird. Die hier vorzustellende These lautet: Der andere Ort ist ein beliebiger, nur begrenzt durch die technische Möglichkeit der Übertragung und – grundsätzlich – durch die Reichweite deutscher Jurisdiktion. Angesichts des Wortlauts, der Normstruktur und des Zwecks von § 128a ZPO (Prozessökonomie und und Verfahrensbeschleunigung; BT-Drs. 14/6036, S. 116, 119; BT-Drs. 17/1224, S. 1) wäre es verfehlt, als andere Orte von vornherein nur solche zuzulassen, die bestimmte Angemessenheits- oder Würdekriterien erfüllen (so aber z.B. Ulrich in: Schoch/Schneider/Bier, § 102a VwGO Rn. 29; Stäbler in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 110a Rn. 16; jew. akt. Bearbeitungsstand, zu Parallelvorschriften). Hierbei kann es nicht um die Angemessenheit der Optik des von der Kamera erfassten Hintergrundes im Sinne ästhetischer Erwägungen gehen, die bekanntlich im Auge des Betrachters liegen und damit die Tatbestandsvoraussetzungen hin zur Willkür entgrenzen würden. Warum sollte nicht auch ein aufgeräumter Küchentisch für ein Gericht (Vorsicht, Homonym!) ein würdiger Ort sein? Derartige Erwägungen sind jedenfalls nicht auf Tatbestandsebene anzustellen. Nutzte eine Partei die Wahl des Ortes oder die Gestaltung des übertragenen Hintergrundes dafür, die Würde des Gerichts oder das Persönlichkeitsrecht anderer Prozessbeteiligter anzugreifen (z.B. Aufhängen von Transparenten), so sind sitzungspolizeiliche Maßnahmen angezeigt, z.B. die Androhung der Unterbrechung der Verbindung, wenn sich die Person nicht in eine andere Aufnahmeposition begibt, mit der Konsequenz des Abbruchs der Übertragung als Ultima Ratio. Auch der Rechtsanwalt, der meint, sich aus dem ICE über sein Smartphone bei ständig abbrechender Verbindung zuschalten zu können, ist ein Problem, dem durch vorherige Kommunikation oder durch die Ermessensausübung bei der Beschlussfassung („in den Räumen der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten X, Y-Straße, Z“; vgl. BeckOK-ZPO/von Selle (Stand 1.3.2020), § 128a Rn. 6) zu begegnen ist. Einer Eingrenzung des „anderen Orts“ dahingehend, dass die Übertragung nicht an einen „privaten“ Ort erfolgen dürfe (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 128a Rn. 4), fehlt die methodenkonforme Grundlage. So stellt sich die Frage, welche „Privatheit“ gemeint ist, wenn unstreitig eine Rechtsanwaltskanzlei ein geeigneter Ort sein soll. Zudem führt eine Übertragung in Privaträume nicht zu einer „Privatisierung“, da im Sitzungszimmer als Ort der Gerichtsöffentlichkeit alle Übertragungen hör- und sichtbar sind. Soweit die Vertreterinnen und Vertreter dieser Auffassung sich im Anschluss an Zöller/Greger auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 30. April 2004 – VI ZB 81/03 berufen (z.B. jüngstes Fehlzitat bei Vanetta/Lemmer, DB 2020, 10+98 (1102); vgl. auch Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 110a Rn. 7), wurde in dieser Entscheidung kein übertragbarer Rechtsgedanke entwickelt: Dort ging es um die Erörterungsgebühr nach § 31 Abs. 1 Nr. 4 BRAGO a.F. beim Vergleichsschluss nach § 278 Abs. 6 ZPO; der mit der Erörterung im Gerichtssaal verbundene Arbeitsaufwand der Prozessvertreter sei – so der Bundesgerichtshof – nicht vergleichbar mit einem Telefongespräch, das ohne räumliche und zeitliche Bindung und dem mit dem Weg zum Gericht verbundenen Zeitaufwand geführt werden könne. Durch § 128a ZPO würde zwar das Erfordernis der körperlichen Präsenz bei einer mündlichen Verhandlung gelockert, doch würden dadurch nicht Gerichtsverhandlungen partiell in den Privatbereich oder in Büros verlegt. Vielmehr sei auch im Falle des § 128a ZPO das Erscheinen der Prozessbeteiligten am Übertragungsort zu der zur Verhandlung bestimmten Zeit erforderlich. Der Bundesgerichtshof trifft also eine Aussage über den normativen Gehalt von § 128a ZPO, nämlich, dass § 128a ZPO nicht zu einer „Privatisierung“ der Gerichtsverhandlung führt, er trifft aber keine Aussage über eine notwendige Qualität des anderen Ortes. Maßgeblich ist vielmehr das zeitgleiche Erscheinen. Der „andere Ort“ dürfen auch „andere Orte“ sein - trotz des Wortlauts (MüKo-ZPO/Fritsche, 5. Aufl. 2016, § 128a Rn. 4). Insbesondere im Anwaltsprozess vor dem Landgericht ist es naheliegend, die Prozessbevollmächtigten aus ihren jeweiligen Kanzleien zuzuschalten. Entsprechendes gilt für Behördenräumlichkeiten in den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten. Den einschränkenden Auslegungen liegen möglicherweise auch veraltete Vorstellungen zum erforderlichen technischen Aufwand zugrunde. So wird immer noch auf die zutreffende, aber eben fast aus einem anderen Jahrhundert stammende Auffassung von Hartmann hingewiesen, eine Fernsehanstalt sei nicht zur Amtshilfe verpflichtet, die Gegenstelle bereit zu stellen (Anders, in: Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle, ZPO, 78. Aufl. 2020, § 128a Rn. 6). Damals war eben das Smartphone noch nicht erfunden, das problemlos die zeitgleiche Bild- und Tonübertragung ermöglicht. „Originalismus“ ist bislang kein Element des Auslegungskanons der deutschen Rechtswissenschaft und sollte es auch nicht im Prozessrecht werden!

II. Praktische Überlegungen zum „anderen Ort“

Unter den gegenwärtigen Bedingungen von Technik und Pandemie ist es möglich wie sinnvoll, dass die Beteiligten ihre Gegenstelle zur Übertragung selbst mit ihren „Bordmitteln“ betreiben. Dies begegnet keinen grundsätzlichen verfahrensrechtlichen Bedenken (vgl. bereits Leopold, NZS 2013, 8+47 (848)). Unproblematisch ist dies insbesondere bei der Übertragung per Videokonferenzsoftware, bei der der Charme ja gerade darin besteht, dass nur das Gericht Lizenznehmer sein muss und Einladungen per E-Mail verschicken kann, die dann eine Webbrowser-basierte Teilnahme oder ähnlich niedrigschwellige Teilnahmemöglichkeit mit nahezu jedem handelsüblichen Notebook oder Smartphone eröffnet. Nur in einigen Bundesländern wird erst jetzt die Justiz mit dieser auch preiswerten Alternative zur kostenintensiven stationären Videokonferenzanlage (und deren besonderen Anforderungen des Übertragungsprotokolls an die Gegenstelle) ausgestattet. Auch der Bundesgerichtshof verhandelte jüngst verfahrensrechtskonform mittels „Microsoft Teams“. Ob die Justizverwaltung bei der Bereitstellung der Videokonferenztechnik ihrerseits alle Vorschriften des Datenschutzrechts und der rechtlichen Vorgaben an die Datensicherheit einhält, ist ersichtlich nicht auf Tatbestandsseite des § 128a Abs. 1 ZPO zu prüfen. In Hessen erscheint dies nach dem Kenntnisstand des Verfassers bei „Hessen Connect“, einer Anwendung auf der Basis von „Skype for Business“ sichergestellt zu sein. Das Gericht muss sich insoweit darauf verlassen können, dass die Gerichtsverwaltung die Rechtsprechungsressourcen rechtskonform zur Verfügung stellt. Allerdings kann sich im Rahmen der Ermessensausübung diese Frage stellen (BeckOK-VwGO/Schild, § 102 Rn. 10 stellt hier strenge Anforderungen). Die bei der Übertragung auf das Notebook oder Smartphone der Partei „in Person“ einhergehende Gefahr, dass sie den Stream illegal mitschneidet, ist allerdings nicht zu leugnen. Sie ist aber durch eine ausführliche Belehrung vor Beginn der mündlichen Verhandlung eingrenzbar. Die Frage, ob eine Zeugenvernehmung per Videokonferenz hinsichtlich der Anknüpfungspunkte für eine Beweiswürdigung eher Vor- oder Nachteile mit sich bringt, ist hochgradig einzelfallabhängig zu beantworten (Prütting, AnwBl. 2013, 3+30 (332)). Wenn eine Anhörung im Einzelfall nur via Smartphone am anderen Ort der Wohnung (oder einer Einrichtung) möglich ist, ohne Belange des Gesundheitsschutzes und/oder des rechtlichen Gehörs evident fehl zu gewichten, dürfte der Weg über die Videokonferenzsoftware gegenüber einer Entscheidung ohne Anhörung verfahrensrechtlich vorzugswürdig sein, was aber gegenwärtig im familiengerichtlichen Verfahren hoch umstritten ist. Von vornherein dies als „unangemessen“ abzulehnen (so wohl Lack, NJW 2020, 12+55 (1256)), widerspricht der gebotenen Abwägung verfassungsrechtlich geschützter Belange im Einzelfall. Der Verfasser hat im Mai 2020 seine erste Verhandlung mittels Videokonferenzsoftware durchgeführt. Die Teilnahme einer der Klägerinnen und ihres Prozessbevollmächtigten (beide jeweils per Smartphone und kostenfreier App von zwei Orten) bei Anwesenheit des Beklagtenvertreters im Gericht (dort u.a. Projektion mit HD-Beamer und externem Lautsprecher über das Dienst-Notebook des Berichterstatters im Sitzungssaal) verlief überraschend gut. Auch bei der Teilnahme per Smartphone vom „anderen Ort“ bedarf es dort nach der Erfahrung des Verfassers nicht allerneuester Geräte, solange die Übertragungsrate der Internetverbindung (W-LAN oder LTE-Datenflatrate) hinreichend ist.

III. Zusammenfassung und Ausblick

Das in diesen Tagen in Kraft tretende „Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II)“ sieht für die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit den Regelfall (!) der Möglichkeit der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz vor (§ 114 Abs. 3 ArbGG und § 211 Abs. 3 SGG). Diese gesetzgeberische Wertung, die auf dem heutigen Stand der Verfügbarkeit von Videokonferenzsoftware getroffen wurde, ist ernst zu nehmen und sollte auch nicht durch verengte Interpretationen von Begriffen wie „anderer Ort“ in Vorschriften wie § 128a ZPO ausgebremst werden, die auf technisch veralteten Vorverständnissen beruhen. Der Kläger kann am Ort seiner Privatwohnung über sein Smartphone verfahrensfehlerfrei informatorisch angehört oder als Partei vernommen werden; gleiches gilt für die Abgabe von Prozesserklärungen der Rechtsanwältin im Homeoffice anstelle der Anwesenheit in den Kanzleiräumen. Zudem wird gegenwärtig in der Gerichtspraxis zuweilen folgender Aspekt übersehen: Unter den Bedingungen der Pandemie sind die Alternativen zur Videokonferenz die Nichtentscheidung, die Entscheidung im schriftlichen Verfahren oder eine Entscheidung auf schlechterer Tatsachengrundlage z.B. unter Verzicht auf eine Anhörung. Hier streiten mit hohem Gewicht bei der Abwägung die Rechtspositionen der Beteiligten gerade für eine Erörterung oder mündliche Verhandlung per Videokonferenz. Die Videokonferenzverhandlung ist ein Instrument, mit dem der gerichtliche Werkzeugkasten ergänzt wird, sie ist weder ein „Schweizer Taschenmesser“ noch ein Rationalisierungsinstrument! Wenn Richterinnen und Richter ansonsten Rechtsverweigerung betreiben oder verspätetes Recht liefern würden, bewirkt die mündliche Verhandlung mit Videokonferenztechnik eine faktische Verbesserung des Rechtsschutzes.
 
Zur Person: Dr. Frank Schreiber ist Richter am Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt und Redakteur der Zeitschrift „Betrifft JUSTIZ“. Insbesondere die Ausführungen unter I. basieren auf einem ausführlicheren Beitrag zu § 128a ZPO und seiner Parallelvorschriften unter den Bedingungen der Pandemie, der in Ausgabe Nr. 142 (Juni 2020) der Zeitschrift „Betrifft JUSTIZ“ erscheint.