Erneute Anhörung des Sachverständigen in der Berufungsinstanz?

Will das Berufungsgericht die Aussage eines Zeugen oder einer Partei anders würdigen als das Gericht erster Instanz, so muss es den Zeugen oder die Partei erneut vernehmen (s. dazu auch hier). Mit Beschluss vom 18.07.2018 – VII ZR 30/16 hat der Bundesgerichtshof nun klargestellt, dass dies auch dann gilt, wenn das Berufungsgericht aus den Feststellungen eines Sachverständigen andere Schlüsse ziehen will, als die Vorinstanz.

Sachverhalt

Der klagende Bauherr nahm die im Rahmen der Sanierung eines Altbaus beauftragte Architektin (Beklagte zu 1) sowie den mit statischen Berechnungen beauftragten Beklagten zu 2 auf Schadensersatz in Anspruch. Im Rahmen der Bauarbeiten musste eine Gebäudeaußenwand mittels eines Baubehelfs abgefangen werden. Rund eine Woche nach dessen Erstellung brach die betreffende Gebäudeaußenwand nebst weiteren Gebäudeteilen ein. Der Errichtung dieses Baubehelfs lagen keine planerischen Vorgaben des Beklagten zu 1 zugrunde. Der Beklagte zu 2 hatte auf Bitten des Bauleiters der Bauunternehmerin lediglich teilweise Berechnungen erstellt Das Landgericht hat die Beklagten – sachverständig beraten – in unterschiedlichem Umfang verurteilt. Das Berufungsgericht hat das Urteil des Landgerichts aufgehoben und die Klage aus tatsächlichen Gründen abgewiesen ohne den Sachverständigen erneut zu vernehmen. [wpex more="Hintergrund" wpex less="Hintergrund"] Das Berufungsgericht hatte hier das Gutachten des Sachverständigen anders verstanden als das Gericht erster Instanz und die Klage daher abgewiesen. Fraglich war aber, ob es das so einfach durfte, ohne den Sachverständigen ergänzend anzuhören. Denn für den Zeugenbeweis (auf den das Recht des Sachverständigenbeweises in § 402 ZPO ja verweist) ist allgemein anerkannt, dass das Gericht Zeugen selbst vernehmen muss, wenn es deren Ausführungen anders würdigen will als die Vorinstanz. [wpex]

Entscheidung

Der VII. Zivilsenat hat das Urteil wegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen

„Zu Recht rügt die Nichtzulassungsbeschwerde, dass das Berufungsgericht unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG die Ausführungen der Sachverständigen anders als das Landgericht gewürdigt hat, ohne die Sachverständigen erneut anzuhören.

a) Gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Solche Anhaltspunkte können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als die Vorinstanz.

Beim Sachverständigenbeweis gilt, dass es einer erneuten Anhörung des Sachverständigen bedarf, wenn das Berufungsgericht dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will, insbesondere ein anderes Verständnis der Ausführungen des Sachverständigen zugrunde legen und damit andere Schlüsse aus diesen ziehen will als der Erstrichter. Unterbleibt diese gebotene Beweisaufnahme, ist das Recht des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt (…).

b) Das Berufungsgericht hat die Ausführungen der Sachverständigen im Rahmen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme in diesem Sinne abweichend gewürdigt.

Das Landgericht hat die Pflichtverletzung des Beklagten zu 2 darin gesehen, dass dieser aufgrund seiner Kenntnis, dass eine Auflagerung der von ihm berechneten Stahlträger auf Baustützen beabsichtigt war, den Kläger oder dessen Architekten auf die Gefahrenlage hätte hinweisen müssen, dass ein nicht geeigneter Baubehelf zur Ausführung kommen soll. Das Gericht sei davon überzeugt, dass die unterlassene Warnung des Beklagten zu 2 den Einsturz verursacht habe, da „die mit dem Anbringen der gewählten ungeeigneten Abstützungskonstruktion einhergehenden Eingriffe in die Bausubstanz den Einsturz verursacht“ hätten.

Das zeigt, dass das Landgericht, gestützt auf die Sachverständigengutachten, sowohl den ungeeigneten Baubehelf – die Baustützen – als auch die Eingriffe in die Bausubstanz – die Durchführung der Bohrungen ohne Einhaltung des Pilgerschrittverfahrens – als kausal für den Einsturz erachtet hat.

Das Berufungsgericht versteht die Gutachten hingegen anders. Danach sei der Einsturz kausal darauf zurückzuführen, dass das Pilgerschrittverfahren nicht eingehalten wurde. Darauf, ob die Stützen ihre Wirkung hätten entfalten können oder nicht, komme es nicht mehr an. Folgerichtig misst das Berufungsgericht die mögliche Pflichtverletzung beider Beklagter nur an der Frage, ob diese auf die Einhaltung des Pilgerschrittverfahrens hätten hinwirken müssen. Inwiefern die Beklagten im Hinblick auf eine ordnungsgemäße Abstützung Planungs- oder Hinweispflichten trafen, lässt es offen.

Dies stellt ein in maßgeblicher Weise abweichendes Verständnis der Sachverständigengutachten dar. Dieses Verständnis war erstinstanzlich nicht Gegenstand der umfangreichen schriftlichen Gutachten sowie der Anhörungstermine. Das Berufungsgericht legt keine Umstände dar, warum es ausnahmsweise bereits aufgrund des Akteninhalts zu einem anderen Ergebnis als das Landgericht hätte kommen können. Das Berufungsgericht hätte diese Frage daher nicht ohne erneute Anhörung der Sachverständigen entscheiden dürfen.“

Anmerkung

Die Entscheidung liegt auf der Linie der ständigen Rechtsprechung des BGH (s. nur Urteil vom 23.06.1988 – VII ZR 110/87; Urteil vom 08.06.1993 – VI ZR 192/92; Beschluss vom 24.03.2010 – VIII ZR 270/09), die jedoch – wie der vorliegende Fall zeigt – erstaunlicherweise stets ohne eine Begründung in der Sache auskommt. In den zitierten Entscheidungen findet sich allenfalls ein Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BGH zum Zeugenbeweis. Dass das Berufungsgericht Zeugen (und Parteien) erneut vernehmen muss, wenn es deren Angaben abweichend von der Vorinstanz würdigen will, ist allerdings ohne weiteres einsichtig, weil dem Berufungsgericht der persönliche Eindruck der Zeugen fehlt und weil das Protokoll notwendigerweise unvollständig ist (sofern nicht ausnahmsweise ein Wortprotokoll vorliegt). Nach der Rechtsprechung des BGH soll deshalb eine abweichende Würdigung einer Zeugenaussage allenfalls dann möglich sein, wenn sich diese auf Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen (s. nur BGH, Beschluss vom 14.07.2009 – VIII ZR 3/09, ebenso BVerfG Beschluss vom 14.09.2010 – 2 BvR 2638/09). Auf eben diese Umstände dürfte es bei einem (ggf. sogar schriftlichen!) Sachverständigengutachten aber nicht ankommen. Warum das Berufungsgericht den Sachverständigen dann trotzdem immer selbst anhören muss, erschließt sich mir nicht - und erst Recht nicht, warum darin sogar eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegen soll. tl;dr: Das Berufungsgericht muss einen Sachverständigen erneut anhören, wenn es dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will, insbesondere ein anderes Verständnis der Ausführungen des Sachverständigen zugrunde legen und damit andere Schlüsse aus diesen ziehen will. Anmerkung/Besprechung, BGH, Beschluss vom 18.07.2018 – VII ZR 30/16. Wenn Sie diesen Artikel verlinken wollen, können Sie dafür auch folgenden Kurzlink verwenden: www.zpoblog.de/?p=6647 Foto: ComQuat | BGH - Palais 2 | CC BY-SA 3.0