Arbeitsgerichte als „Online-Courts“?

Es wäre eine Sensation, wenn es tatsächlich so käme: Nach einem bislang nicht veröffentlichten Entwurf eines Gesetzes zur Reform des ArbGG (Update vom 16.04.2020: Es gibt inzwischen einen „offiziellen Referententwurf“ aus dem BMAS) könnte es in Deutschland demnächst tatsächlich so etwas wie „Online-Courts“ oder „Remote-Courts“geben - Gerichtsverhandlungen die vollständig online stattfinden und ohne einen physischen Gerichtssaal auskommen. Der Entwurf geht auf eine Intiative der Präsidenten der Landesarbeitsgerichte und der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts zurück und muss vor dem Hintergrund einer absehbar zunehmenden Zahl an Kündigungsschutzklagen gesehen werden. Gleichzeitig ist ein „Normalbetrieb“ mit vielen Personen in kleinen Gerichtssälen oder in enger Taktung mit auf dem Flur wartenden Personen gegenwärtig kaum zu verantworten.

Die bisherigen gesetzlichen Regelungen

§ 128a ZPO ermöglicht schon seit 2002, dass sich Parteien, ihre Bevollmächtigten, Zeugen, Sachverständige etc. während der Verhandlung bzw. ihrer Vernehmung „an einem anderen Ort“ aufhalten können; die Verhandlung wird dann „zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen“. Schon seit 2013 bedarf es dafür nicht mehr der Zustimmung der weiteren Beteiligten. Gerichtsverhandlungen sind damit auch möglich, ohne dass – mit Ausnahme der Richterinnen und Richter – eine weitere Person im Gerichtssaal anwesend ist. Lediglich in zweierlei Hinsicht bereitet die gegenwärtige Rechtslage Probleme: Richterinnen und Richter können sich während der Verhandlung nicht in ihrem Büro (oder im Home-Office) aufhalten, obwohl der erforderliche Mindestabstand von 1,50 Metern in den meisten Gerichtssälen wohl nicht ohne Weiteres einzuhalten sein wird. Und das Gericht kann den Beteiligten zwar gestatten, sich während der Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten; es kann aber niemanden zur Teilnahme (ausschließlich) im Wege der Bild- und Tonübertragung gem. § 128a ZPO verpflichten. Hinzu kommt, dass auch bei einer Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung der Öffentlichkeitsgrundsatz (§ 169 GVG) gewahrt sein muss: Eine einfache „Skype-Konferenz“ mit den Beteiligten kommt daher (abseits aller datenschutzrechtlichen Aspekte) offensichtlich nicht in Betracht. § 169 GVG erfordert vielmehr einen Sitzungssaal, in dem sich ausreichend viele Bildschirme und Lautsprecher befinden, um die abwesende Person(en) in den Gerichtssaal zu übertragen (und entsprechend viele Kameras und Mikrofone, um die Verhandlung zur abwesenden Person zu übertragen). Gerade daran fehlt es aber oft nach wie vor, so dass Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung praktisch nur wenig relevant sind.

Die wesentlichen Regelungen des Entwurfs

Genau bei diesen bereits hier im Blog skizzierten Problemen setzt der Entwurf an und schlägt eine ausdrüklich befristete Lösung vor, die wie folgt aussehen soll:
  • Das Gericht wird ermächtigt, eine Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung anzuordnen und die Parteien und alle weiteren Beteiligten damit zu verpflichten, an der Verhandlung ausschließlich per Videokonferenz teilzunehmen.
  • Eine gleichzeitige Anwesenheit von Vorsitzendem und ehrenamtlichen Richtern ist weder im Sitzungssaal noch zum Zwecke der Beratung (s. dazu BAG, Urteil vom 26.03.2015 – 2 AZR 417/14 Rn. 12 f.) erforderlich.
  • Auf die Öffentlichkeit wird insoweit verzichtet.
Dazu soll § 46 ArbGG um einen dritten Absatz ergänzt werden, der wie folgt lauten soll:
„Das Gericht kann unbeschadet des § 128a ZPO zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen anordnen, dass die mündliche Verhandlung ausschließlich im Wege der zeitgleichen Übertragung in Bild und Ton in unterschiedlichen Räumlichkeiten, auch außerhalb des Sitzungszimmers, stattfindet, sofern die Prozessbeteiligten die technischen Voraussetzungen hierfür in zumutbarer Weise schaffen können. Im Einvernehmen mit den ehrenamtlichen Richtern kann die Beratung und Abstimmung in derselben Weise vorgenommen werden. Die Verhandlung einschließlich der Verkündung ist nicht öffentlich. § 128a Abs. 3 ZPO gilt entsprechend.“
(Update vom 16.04.2020: Im „offiziellen Referententwurf“ soll in § 114 ArbGG eine inhaltlich im Wesentlichen identische Regelung eingeführt werden.)

Kurze Halbwertszeit, langfristige Wirkung?

Diese geplante Neuregelung wäre eine Sensation. Denn sie löst die bestehenden Probleme und schafft zum ersten Mal in der deutschen Rechtslandschaft eine Form von „Online-Courts“, bei denen der Gerichtssaal nur noch virtuell ist: Alle Beteiligten – und damit auch die Richterinnen und Richter – können während der Verhandlung in ihren Büros oder Home-Offices bleiben. Noch sinnvoller als eine partielle Regelung lediglich im ArbGG wäre eine solche Regelung in der ZPO, die damit auch für die weiteren Verfahrensordnungen gelten würde. Dabei darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass die beabsichtigte Lösung einem in justizpolitischen Fragen leider allzu bekannten Muster folgt: Reichen Personal und Sachmittel nicht aus, um den gesetzlichen Anforderungen gerecht zu werden, werden die gesetzlichen Anforderungen abgesenkt – und nicht Personal und Sachmittel aufgestockt. Solche „Reformen“ gehen dabei oft auf Kosten der Verfahrensrechte der Beteiligten; hier auf Kosten des in §§ 169 GVG, 52 ArbGG geregelten und in Art. 6 Abs. 1 EMRK abgesicherten Öffentlichkeitsgrundsatzes. Der Ausschluss der Öffentlichkeit wäre aber für einen Übergangszeitraum wohl zulässig und auch mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar. Denn Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EMRK ermöglicht ausdrücklich einen Ausschluss der Öffentlichkeit im Interesse der öffentlichen Ordnung, zu der auch der Gesundheitsschutz der Beteiligten gehören dürfte, oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde. Wenn die Regelung tatsächlich auf mehrere Monate befristet ist und damit lediglich die Zeit lässt, die es braucht, Gerichtssäle technisch nachzurüsten, dürfte sie vor dem Hintergrund des momentan kaum zu überwindenden Spannungsverhältnis zwischen Gesundheits- und Rechtsschutz auch verhältnismäßig sein. Und sie löste ganz nebenbei das (auch im Entwurf ausdrücklich angesprochene) Problem, dass angesichts der gegenwärtigen Kontakt- und Ausgangssperren zweifelhaft ist, ob Verhandlungen überhaupt noch „öffentlich“ i.S.d. § 52 Abs. 3 ArbGG sein können. Die vorgeschlagene Lösung wäre dabei voraussichtlich so oder so wegweisend: Fänden auch nur für einen Übergangszeitraum tatsächlich viel mehr Verhandlungen im Wege der Videokonferenz statt und gewöhnten sich sämtliche Beteiligten daran, führte wahrscheinlich kein Weg zurück. Der Druck auf die Budgetverantwortlichen in der Justiz würde vermutlich so groß, dass mittel- bis langfristig Sitzungssäle endlich in ausreichendem Umfang an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts angepasst und mit Videokonferenztechnik auszgestattet würden. (Update vom 16.04.2020: Die Einzelheiten zum offiziellen Entwurf kann man bei Fuhlrott/Oltmanns im Expertenforum Arbeitsrecht und in DB 2020, 841 ff. nachlesen.)
Dieser Artikel ist in ähnlicher Form zuerst im EFAR erschienen. Die Zweitveröffentlichung hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber.
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