BGH zur Kostenfolge bei konkurrierender Rechtshängigkeit i.S.d. Art. 29 ff. EuGVVO

Werden in zwei Mitgliedsstaaten der europäischen Union Klagen mit demselben Streitgegenstand erhoben, hat das später angerufene Gericht das Verfahren gem. Art. 29 Abs. 1 EuGVVO von Amts wegen auszusetzen und - wenn die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht - sich für unzuständig zu erklären. Wie das vor dem später angerufenen Gericht anhängige Verfahren in einem solchen Fall „abzuwickeln“ ist, hat nun der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 22.02.2018 – IX ZR 83/17 entschieden.
Sachverhalt
Der Kläger, ein österreichischer Rechtsanwalt, hatte den Beklagten in einem Zivilprozess in Österreich vertreten und klagte sein Honorar vor dem Bezirksgericht Salzburg (am Sitz seiner Kanzlei) ein. Das Bezirksgericht wies die Klage mit Urteil vom 27.02.2015 mangels internationaler Zuständigkeit als unzulässig ab. Der Kläger legte dagegen „Rekurs“ zum Landesgericht Salzburg ein, erhob aber zugleich auch im März 2015 Klage in Deutschland vor dem Amtsgericht am Wohnsitz des Beklagten. Das Landesgericht in Salzburg hob das Urteil des Bezirksgerichts auf und verwies den Rechtsstreit an das Bezirksgericht zurück, wo sich die Parteien verglichen. Den Rechtsstreit vor dem deutschen Amtsgericht hat der Kläger daraufhin für erledigt erklärt, der Beklagte hat sich der Erledigungserklärung nicht angeschlossen. Das Amtsgericht hat die Klage daraufhin abgewiesen, weil die Klage schon von Anfang an unzulässig gewesen sei. Das Landgericht hat den Beklagten auf die Berufung des Klägers hingegen antragsgemäß verurteilt und dazu ausgeführt, § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO sei bei grenzüberschreitenden Sachverhalten innerhalb der europäischen Union nicht anwendbar. Art. 29 EuGVVO n.F. wolle es gerade ermöglichen, dass Klagen vor den Gerichten verschiedener Mitgliedsstaaten erhoben werden können, weshalb auch die später erhobene Klage als (zunächst) zulässig anzusehen sei, denn das Gericht dürfe die Klage ja nicht sofort abweisen, sondern müsse zunächst zuwarten.

Der Kläger hatte hier den Beklagten zunächst vor österreichischen Gerichten auf Zahlung seines Anwaltshonorars verklagt. Dabei war streitig, ob die österreichischen Gerichte international zuständig waren. Das richtete sich nach EuGVVO, da sowohl Österreich als auch Deutschland Mitglied der EU sind. Nachdem das erstinstanzliche österreichische Gericht seine Zuständigkeit verneint hatte, erhob der Kläger deshalb (wohl „sicherheitshalber“) auch Klage vor dem Amtsgericht am Wohnsitz des Beklagten (Art. 4 Abs. 1 EuGVVO). Dieses Gericht setzte gem. Art. 29 Abs. 1 EuGVVO das Verfahren zunächst aus und wartete den Abschluss des Rechtsstreits in Österreich ab. Nachdem das Verfahren dort durch den Vergleich beendet war, erklärte der Kläger den Rechtsstreit in Deutschland für erledigt; der Beklagte schloss sich dem jedoch nicht an. Das Gericht konnte deshalb nicht gem. § 91a ZPO durch Beschluss über die Kosten entscheiden, sondern der Rechtsstreit wurde mit anderen Anträgen fortgesetzt (sog. einseitige Erledigungserklärung). Das hat der BGH hier übrigens in der Randnummer 7 sehr schön zusammengefasst:

„Wenn ein Kläger die Hauptsache für erledigt erklärt, der Beklagte dem aber widerspricht und Klageabweisung beantragt, hat das Gericht durch Urteil zu entscheiden, ob Erledigung eingetreten ist oder nicht (…). Die Hauptsache ist erledigt, wenn die Klage im Zeitpunkt des nach ihrer Zustellung eingetretenen erledigenden Ereignisses zulässig und begründet war und durch das behauptete Ereignis unzulässig oder unbegründet wurde (…). Das Gericht muss die Klage abweisen, wenn eine der beiden Voraussetzungen nicht vorlag (…).“

Für die Entscheidung über den geänderten Antrag war es deshalb entscheidend, ob die Klage in Deutschland trotz der gleichzeitig rechtshängigen Klage in Österreich zulässig gewesen war oder nicht. Denn bei einer unzulässigen Klage konnte keine Erledigung eintreten, so dass die Klage abzuweisen war und der Kläger die Kosten zu tragen hatte. Das hatte das Gericht erster Instanz hier angenommen, das Berufungsgericht hatte das aber anders gesehen.

Entscheidung

Der BGH hat das Urteil des Landgerichts auf die Berufung des Klägers aufgehoben und das erstinstanzliche Urteil wiederhergestellt:

„Die vor dem Amtsgericht erhobene Klage war von Anfang an unzulässig, weil der Kläger wegen desselben Anspruchs gegen den Beklagten bereits vor einem international zuständigen Gericht in Österreich einen Rechtsstreit führte, der bis zu dessen vergleichsweiser Beendigung rechtshängig blieb.

a) Die Rechtshängigkeit der Streitsache hat nach deutschem Zivilprozessrecht die Wirkung, dass während der Dauer der Rechtshängigkeit die Streitsache von keiner Partei anderweitig anhängig gemacht werden kann (§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Dadurch soll verhindert werden, dass der Beklagte und die Gerichte sich in mehreren Verfahren mit derselben Sache befassen müssen und dass einander widersprechende Urteile ergehen (…). Das deutsche Prozessrecht behandelt die anderweitige Rechtshängigkeit als negative Prozessvoraussetzung, die von Amts wegen zu beachten ist (…). Eine später gegen dieselbe Partei über denselben Streitgegenstand erhobene Klage ist während der Dauer der anderweitigen Rechtshängigkeit von Anfang an unzulässig (…).

b) § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO regelt unmittelbar nur die Wirkungen der Rechtshängigkeit einer Streitsache vor einem deutschen Gericht. Die Rechtshängigkeit der Streitsache vor einem ausländischen Gericht steht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Rechtshängigkeit vor einem inländischen Gericht aber gleich, wenn das ausländische Urteil hier anzuerkennen sein wird (…). Sie steht unter dieser Voraussetzung einer nachfolgenden Klage in gleicher Weise von Anfang an entgegen, wie gemäß § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO die anderweitige Rechtshängigkeit der Streitsache in Deutschland.

c) Aus Art. 29 EuGVVO nF ergibt sich nicht, dass die in Deutschland erhobene Klage abweichend von den vorstehenden Grundsätzen zunächst zulässig war.

aa) Für den hier gegebenen Fall der doppelten Rechtshängigkeit einer Streitsache bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Union bestimmt Art. 29 Abs. 1 und 3 EuGVVO nF, dass das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen auszusetzen hat, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht; sobald dies der Fall ist, hat sich das später angerufene Gericht zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären (…).

bb) Die Regelung der Verordnung hat Vorrang vor dem Prozessrecht der einzelnen Mitgliedstaaten (…). Der Vorrang gilt jedoch nur insoweit, als die Regelung der Verordnung reicht.

Art. 29 EuGVVO nF bestimmt die Rechtsfolge der doppelten Rechtshängigkeit dahin, dass sich das später angerufene Gericht, sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, für unzuständig zu erklären hat. In welcher Weise und auf wessen Kosten der später begonnene Rechtsstreit prozessual beendet wird, überlässt die Regelung dem nationalen Recht (…). Die deutsche Rechtsprechung hat schon zu den früheren Bestimmungen in Art. 21 EuGVÜ und Art. 27 EuGVVO aF entschieden, dass die Klage bei dem später angerufenen Gericht als unzulässig abzuweisen ist (…). Dies entspricht der Rechtslage nach § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO. Die durch die anderweitige Rechtshängigkeit bewirkte Unzulässigkeit der späteren Klage besteht von Anfang an. Deswegen ist dem Kläger auch der Weg versperrt, die Kosten über eine Erledigungserklärung auf den Beklagten abzuwälzen.

d) Selbst unter der Annahme, Art. 29 EuGVVO nF regle auch den Zeitpunkt, ab dem die Klage beim später angerufenen Gericht unzulässig ist, träfe die Ansicht des Berufungsgerichts, die spätere Klage sei bis zur Feststellung der Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts zulässig, nicht zu. Eine solche vorübergehende Zulässigkeit der später erhobenen Klage kann nicht aus dem Umstand abgeleitet werden, dass Art. 29 Abs. 1 EuGVVO nF eine Aussetzung des Verfahrens vorschreibt, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht. Das Aussetzungsgebot betrifft ausschließlich das vom Zweitgericht einzuhaltende Verfahren. (...)

Die Regelung in Art. 29 Abs. 1 und 3 EuGVVO nF entspricht, wie schon die Vorgängerregelung in Art. 27 EuGVVO aF, im Wesentlichen derjenigen in Art. 21 EuGVÜ nF. Auch sie schiebt lediglich die Befugnis des Zweitgerichts, sich im Hinblick auf die doppelte Rechtshängigkeit für unzuständig zu erklären, zeitlich hinaus (...). Das Zweitgericht hat die Entscheidung des Erstgerichts zur internationalen Zuständigkeit abzuwarten und im Verfahren bis dahin innezuhalten.

Hierdurch sollen negative Kompetenzkonflikte vermieden werden, die im Falle einer sofortigen Abweisung der zweiten Klage wegen der anderweitigen Rechtshängigkeit drohten, wenn sich das erste Verfahren letztlich doch mangels internationaler Zuständigkeit als unzulässig erweist (...). Die Parteien sollen in einem solchen Fall nicht mit ihrem Prozess von neuem beginnen müssen (...). Damit ist den Interessen des Klägers im Rahmen des von Art. 29 EuGVVO nF verfolgten Regelungszwecks hinreichend Rechnung getragen. Eine weitergehende Bevorzugung seiner Interessen gebietet Art. 29 EuGVVO nF nicht.

Insbesondere bezweckt die Bestimmung entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht, dass ein Kläger gegen ein und denselben Beklagten wegen desselben Streitgegenstandes bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten ohne Kostenrisiko gerichtlich vorgehen kann. Art. 29 EuGVVO nF dient auch dem Schutz des Beklagten vor der Gefahr, sich einer doppelten Verurteilung und entsprechenden Kostenfolgen ausgesetzt zu sehen (…)."

Anmerkung

Eine zweite Klage vor dem Gericht eines anderen Mitgliedsstaats zu erheben ist deshalb stets mit der Folge verbunden, auf den Kosten eines Rechtsstreits „sitzenzubleiben“. Ohnehin verstehe ich hier nicht, warum der Kläger gleichzeitig mit der Berufung auch Klage in Deutschland erhoben hat. Jedenfalls nach deutschem Recht wäre dies zur Hemmung der Verjährung m.E. nicht erforderlich gewesen, weil auch eine (mangels internationaler Zuständigkeit) unzulässig Klage die Verjährung hemmt. Der Kläger hätte deshalb eigentlich den Ausgang des Rechtsstreits in Österreich abwarten können. Ober übersehe ich da etwas? Oder ist das im österreichischen Recht vielleicht anders? Von einem Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV an den EuGH hat der BGH m.E. (ausnahmsweise) überzeugend abgesehen, weil am Regelungsumfang des Art. 29 EuGVVO kein ernsthafter Zweifel bestehen könne (acte clair-Doktrin) und sich das Verfahren der Aussetzung und die prozessualen Folgen der Unzuständigkeit des später angerufenen Gerichts nach nationalem Recht richteten. tl;dr: Eine bei einem deutschen Gericht erhobene Klage ist von Anfang an unzulässig, wenn wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien bereits eine Klage bei einem international zuständigen Gericht eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union anhängig ist. (Leitsatz des BGH) Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil vom 22.02.2018 – IX ZR 83/17. Foto: Tobias Helfrich, Karlsruhe bundesgerichtshof alt, CC BY-SA 3.0