Auch bei Anwendung ausländischen Sachrechts - „durchwurschteln“ geht nicht!

Ist nicht deutsches, sondern ausländisches materielles Sachrecht anzuwenden, hält sich die Begeisterung der Prozessbeteiligten darüber angesichts des zusätzlichen Aufwands, der zusätzlichen Kosten und der erhöhten Verfahrensdauer in der Regel in engen Grenzen. Dass man in einem solchen Fall trotz stillschweigenden Einverständnisses der Parteien nicht einfach deutsches Sachrecht anwenden kann, hat nun das OLG München mit Urteil vom 01.12.2017 – 10 U 2627/17 noch einmal klargestellt.

Sachverhalt

Der Kläger nahm die Beklagte, eine italienische Haftpflichtversicherung, wegen eines Verkehrsunfalls in Italien in Anspruch; die Beklagte behauptete einen fingierten Verkehrsunfall und berief sich dazu auf eine Vielzahl ihrer Ansicht nach dafür sprechender Indizien. Das Landgericht war gem. Art. 13 Abs. 2 i.V.m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVVO für die Klage gegen den Versicherer zuständig (nicht aber auch gegen den Unfallgegner, s. dazu ausführlich schon hier), anwendbar war gem. Art. 4 Abs. 2 Rom-II-VO aber italienisches Sachrecht. Allerdings hatten wohl sämtliche Beteilige keine große Lust, sich mit den Feinheiten des italienischen Rechts zu fingierten Verkehrsunfällen zu befassen. Das Gericht hatte daher darauf hingewiesen, dass es italienisches Recht nicht kenne, aber beabsichtige, insoweit von der Einholung eines Gutachtens abzusehen, wenn die Parteien dem nicht widersprächen. (Das war übrigens keine wirksame Rechtswahl, weil diese gem. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 Rom-II-VO ausdrücklich erfolgen oder sich mit hinreichender Sicherheit aus den Umständen des Falles ergeben muss.) Nach Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens gab das Gericht der Klage statt und verneinte einen fingierten Verkehrunfall, wogegen sich die beklagte Versicherung wendete.

Nicht nur bei einer Rechtswahl der Parteien, sondern auch nach dispositivem Recht kann sich die Situation ergeben, dass ein deutsches Gericht ausländisches Recht anwenden muss. So war es hier, weil nach den Regelungen der Rom-II-VO auf den Unfall in Italien italienisches Recht anwendbar war, der Kläger gem. Art. 11 Abs. 1 lit. a und b EuGVVO aber die Wahl hatte, ob er in Italien oder Deutschland klagen wollte. Und er hatte sich für Deutschland entschieden. Soweit das Gericht ausländisches Recht anzuwenden hat, gilt der der Satz „iura novit curia“ nicht. Vielmehr ist über das ausländische Recht gem. § 293 ZPO Beweis zu erheben, soweit das Gericht das ausländische Recht nicht kennt. Dies geschieht zwar häufig in den Formen der Beweisaufnahme, es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Beweisaufnahme im eigentlichen Sinne, so dass z.B. der Beibringungsgrundsatz oder § 138 Abs. 3 ZPO nicht anzuwenden sind. Bei der Ermittlung des ausländischen Rechts ist das Gericht auch nicht auf die Beweismittel der §§ 371 ff. ZPO beschränkt, kann also im Freibeweisverfahren vorgehen und z.B. mit amtlichen Auskünften arbeiten. Jedenfalls bei komplexeren Rechtsfragen wird aber häufig ein Sachverständigengutachten eingeholt, was jedoch mit erheblichen Kosten verbunden ist. Wohl deshalb hatten sich das Gericht und die Parteien hier stillschweigend darauf „geeinigt“, darüber hinwegzusehen.

Entscheidung

Das OLG hat das Urteil auf den Hilfsantrag der Beklagten aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen. Das Urteil beruhe auf unzulänglichen Sachverhaltsfeststellungen (§§ 513 I 2 Alt., 529 I Nr. 1 ZPO) sowie einem Missverständnis sachlichen Rechts (§§ 513 I 1. Alt., 546 ZPO) und damit zu einer unvollständigen Anwendung ausländischen Rechts (§ 293 ZPO).

„a) Der Streitfall war und ist nach dem Sachrecht der italienischen Republik zu entscheiden (Art. 24, 4 I, 15 Rom II-VO), weil nach der allgemeinen Kollisionsnorm der behauptete Schaden durch eine unerlaubte Handlung in Italien eingetreten ist, und keine vorrangigen Anknüpfungspunkte (Art. 4 II, III Rom II-VO) bestehen.

  • Zum einen wäre deswegen zu prüfen und in den Entscheidungsgründen darzustellen gewesen, ob und in welchem Umfang dem Kläger – über die grundsätzliche Haftung für Schäden durch den Verkehr eines Fahrzeugs hinaus – der Nachweis gelungen ist, der die gesetzliche Vermutung widerlegt, dass jeder der Lenker in gleichem Ausmaß zur Verursachung des an den einzelnen Fahrzeugen entstandenen Schadens beigetragen hat (Art. 2054 S. 1, 2 Italienisches Zivilgesetzbuch). (…)
  • Zum zweiten wäre zu erörtern gewesen, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Auswirkungen nach italienischem Recht ein verabredeter Unfall anzunehmen wäre, und wie die Beklagten einen entsprechenden Nachweis zu führen hätte. Insoweit bezieht sich das Ersturteil jedoch ausschließlich auf die nach deutschem Recht entwickelten Grundsätze (…)

1. Das italienische Sachrecht wurde nicht vollständig und nicht ordnungsgemäß untersucht und festgestellt (…). Stattdessen wendet das Erstgericht ohne Begründung deutsches Recht zu vereinbarungsgemäß herbeigeführten scheinbaren Unfällen an. Trotz den Parteien bekannt gegebener Unkenntnis des italienischen Rechts wurde von einer sachverständigen Begutachtung im stillschweigenden Einverständnis der Parteien (…) abgesehen.

Dagegen hätten von Amts wegen nicht nur ausländisches Gesetzesrecht, sondern auch dessen Auslegung und Anwendung in der Rechtspraxis, wie sie in der Rechtsprechung der Gerichte des betreffenden Landes zum Ausdruck kommt, berücksichtigt werden müssen (…).

Zwar wäre es dem pflichtgemäßen Ermessen der Tatrichterin vorbehalten geblieben, in welcher Weise sie sich die notwendigen Erkenntnisse verschafft, vorliegend wurden jedoch keinerlei Ermessen ausgeübt und keinerlei Erkenntnisquellen genutzt (…). Durch den Verzicht auf eine derartige Beweiserhebung wurde dem Gericht die Möglichkeit genommen, die Entlastungsmöglichkeiten der Beklagten zu klären und insbesondere die gültige Beweislastverteilung anzuwenden. Bei – im Streitfall gebotener – Anwendung ausländischen Rechts sind diesem auch die Beweislastregeln zu entnehmen, ohne Rücksicht darauf, ob die Normen der Beweislastverteilung selbst dem sachlichen Recht zuzurechnen sind (…). Folglich stützt sich das Erstgericht hinsichtlich der streitentscheidenden Einwendungen der Beklagten auf untaugliche und deswegen durch die erhobenen Beweise nicht belegte und nicht begründbare Feststellungen (…).

2. In ähnlicher Weise hat das Landgericht gegen zwingende Grundsätze der Beweiserhebung verstoßen (…), weil nicht erkennbar wird, auf welcher Tatsachengrundlage das wenigstens in einzelnen Vorschriften angewandte italienische Sachrecht erforscht und festgestellt wurde (…). Zudem fehlen dem Ersturteil die Grundsätze der italienischen Rechtsprechung, welche Verkehrspflichten im Streitfall galten, welche Auswirkungen die grundlegende Vermutung zur Haftungsverteilung habe, und wie unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls die Haftungsverteilung nach italienischem Recht getroffen und anhand der Gesetzeslage gerechtfertigt worden wäre.

  • Zwar wäre auch insoweit der Tatrichter nach pflichtgemäßem Ermessen frei (§ 293 S. 1, 2 ZPO), wie er sich fehlende Kenntnisse ausländischen Rechts verschafft (…); jedoch müssen die entsprechenden Maßnahmen geeignet und zielführend sein. Nicht ausreichend ist dagegen, ausdrücklich zu erklären, dass Kenntnisse nicht vorhanden seien (…), und stattdessen deutsches Recht anzuwenden (…).
  • Das Landgericht geht selbst zutreffend davon aus, dass eine solche Beweiserhebung ohne weiteres möglich gewesen wäre (…), wobei auch weitere mögliche Beweismittel zwar vorhanden sind, jedoch nicht in Betracht gezogen wurden. Etwa beschafft und erteilt das Auswärtige Amt über die italienische Botschaft nähere Auskünfte und vermittelt sachkundige Einrichtungen, zudem könnte eine Auskunft eines italienischen Gerichts oder ein Gutachtens eines italienischen Professors für Zivil- und Zivilprozessrecht eingeholt werden (…). Weiterhin kann nach dem Europäischen Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht vom 07.09.1968 (Londoner Übereinkommen) eine Auskunftsanfrage an das italienische Justizministerium gerichtet werden (…). Zuletzt bietet der Internetauftritt des europäischen Justizportals (https://e-justice.europa.eu/home.do) weiterführende Hinweise.
  • Bei dieser Sachlage ist unter Würdigung aller Gesamtumstände die vollständig unterlassene Beweiserhebung durch ein Sachverständigengutachten zum italienischen Recht verfahrensfehlerhaft und schließt aus, dass die Beweiserhebung des Erstgerichts auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht (…)

b) Auch der sachlich-rechtliche Ansatz des Erstgerichts (§§ 513 I 1. Alt., 546 ZPO) ist zu beanstanden, sodass insbesondere die entscheidenden Fragen der Beweislastverteilung und der Anspruchs- und Einwendungsgrundlagen nicht frei von Rechtsfehlern beantwortet wurden. Derzeit lässt sich weder feststellen, noch vorhersagen, ob sich das erstinstanzlich gefunden Ergebnis auch nach erneuten Feststellungen und Anwendung italienischen Rechts als zutreffend erweisen werde und so der Rechtsfehler keine für die Beklagte nachteilige Auswirkungen gehabt haben könne.

1. Zutreffend ist, dass für das Zivilverfahren deutsches Zivilprozessrecht anzuwenden sei (lex fori), einschließlich der Regeln zum Beweisrecht (…). Mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung unvereinbar ist dagegen die – vom Erstgericht verfolgte (…) – Auffassung, dass deutsches Recht als Verfahrensrecht auch für alle Fragen der Darlegungs-, Beweisführungs- und Feststellungslast zu gelten habe; diese sind allein Fragen des sachlichen Rechts (…).

2. Deswegen hätte das Erstgericht auch hinsichtlich der Beweislast italienisches Recht ermitteln und seiner Entscheidung zugrunde legen müssen (…), um eine tragfähige Tatsachengrundlage zu schaffen. Die in der deutschen Rechtsprechung entwickelten rechtlichen Voraussetzungen des Nachweises eines verabredeten oder einverständlichen Unfalls (…) sind solange nicht weiterführend als nicht geklärt ist, ob das italienische Recht gleiche oder wenigstens ähnliche Rechtsgrundsätze verfolgt.“

Anmerkung

Die Entscheidung ist praktisch äußerst relevant, denn gerade die in Rede stehende Konstellation eines Verkehrsunfalls im Ausland und einer danach folgenden Klage gegen einen ausländischen Versicherer vor deutschen Gerichten kommt relativ häufig vor. Mir ist allerdings schleierhaft, warum man solch ein Vorgehen aus Sicht der klägerischen Prozessbevollmächtigten für sinnvoll hält: Denn dass das vom Landgericht auch hier beschrittene „durchwurschteln“ spätestens die Berufung nicht überlebt, dürfte klar sein. Und der Weg über ein Rechtsgutachten ist in der Regel äußerst lang und teuer, da dürfte man auch mit italienischen Gerichten nicht viel schlechter dran sein. (Und: Wie berät man denn als deutscher Anwalt im italienischen Recht? Da braucht man doch wahrscheinlich vor allem eine gute Haftpflichtersicherung.) Die einzige halbwegs pragmatische Lösung in einem solche Fall ist es, den Parteien eine (ohne Weiteres mögliche, Art. 14 Rom-II-VO) ausdrückliche Wahl deutschen Sachrechts nahe zu legen. Nach meiner Erfahrung tun sich allerdings gerade Versicherer damit sehr schwer. tl;dr: 1. Fragen der Darlegungs-, Beweisführungs- und Feststellungslast beurteilen sich als Fragen des materiellen Rechts nach dem jeweils anzuwendenden Sachrecht. 2.Gibt eine Entscheidung keinen Aufschluss darüber, dass der Tatrichter seiner Pflicht, ausländisches Recht zu ermitteln (§ 293 ZPO), ordnungsgemäß nachgekommen ist, ist davon auszugehen, dass eine ausreichende Erforschung des ausländischen Rechts verfahrensfehlerhaft unterblieben ist. Anmerkung/Besprechung, OLG München, Urteil vom 01.12.2017 – 10 U 2627/17. Foto: AHert | OLG Muenchen-02 | CC BY-SA 3.0