Beachtlichkeit des Bestreitens bei „abweichendem“ Ergebnis der Beweisaufnahme

Worauf müssen Gericht und Parteien achten, wenn sich im Rahmen der Beweisaufnahme ein neuer, bislang so von den Parteien nicht (ausdrücklich) vorgetragener, aber der Entscheidung zugrunde zu legender Sachverhalt ergibt? Das zeigt das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 24.11.2020 – VI ZR 415/19.

Sachverhalt

Der Kläger nimmt die beklagte Klinikbetreiberin auf Schadensersatz in Anspruch und behauptet, der ihn behandelnde Arzt habe beim Legen des venösen Zugangs Hygienevorschriften missachtet. Der Arzt, habe keine Handschuhe getragen, zuvor keine Handreinigung durchgeführt und eine Spritze verwendet, die zuvor auf den Boden gefallen sei. Dadurch sei er mit einem MRSA-Keim infiziert worden. Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen Dr. R, der nach der Behandlungsdokumentation der Beklagten den Zugang gelegt hatte. Dabei hat dieser angegeben, die Maßnahme zwar ausweislich der Dokumentation angeordnet, diese aber nicht selbst ausgeführt zu haben. Er könne sich aber nicht mehr daran erinnern, wer den Zugang gelegt habe. Die Unterschrift auf der Dokumentation sei auch nicht seine. Das Landgericht hat die Klage daraufhin abgewiesen, weil der Kläger den Beweis für den Behandlungsfehler nicht geführt habe. Die dagegen gerichtete Berufung hat das OLG gem. § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurückgewiesen. Dabei haben die Vorinstanzen die Aussage es Zeugen Dr. R zugrunde gelegt, dass er den Zugang nicht gelegt habe. Zur Begründung haben die Gerichte im Übrigen ausgeführt, die Beklagte treffe zwar eine sekundäre Darlegungslast und sie müsse die ihr zumutbaren Nachforschungen anstellen. Die Beklagte sei als nicht beweispflichtige Partei aber nicht verpflichtet, Zeugen namhaft zu machen, damit der Kläger diese benennen könne. Eine solche Weigerung sei allenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung als Beweisvereitelung zu berücksichtigen. Da die Dokumentation nach den Feststellungen des Sachverständigen aber nicht zu beanstanden sei, könne von einer Beweisvereitelung nicht ausgegangen werden. Dagegen wendet sich der Kläger mit der vom Senat zugelassenen Revision.

Der Kläger hatte hier behauptet, der ihn behandelnde Arzt habe die geltenden Hygieneregeln nicht hinreichend beachtet, als er ihm den Zugang gelegt habe. Auf Grundlage der Dokumentation der Beklagten und des Sachvortrags der Beklagten waren beide Parteien davon ausgegangen, dass der Zeuge Dr. R den Zugang gelegt hatte. Der Vortrag des Klägers ging also dahin, dass Dr. R diese Hygienemängel unterlaufen seien. Dies hatte die Beklagte bestritten (und sinngemäß behauptet, dem Zeugen Dr. R seien diese Hygieneverstöße nicht unterlaufen). Im Laufe der Beweisaufnahme stellte sich aber heraus, dass nicht Dr. R, sondern eine andere Person den Zugang gelegt (und also ggf. bestehende Hygienemängel zu verantworten) hatte. Nach allgemeinen prozessualen Grundsätzen war davon auszugehen, dass sich der Kläger dieses Ergebnis jedenfalls hilfsweise zu Eigen gemacht hatte (s. dazu z.B. BGH, Urteil v. 08.01.1991 - VI ZR 102/90). Vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses der Beweisaufnahme war der Vortrag des Klägers nun so zu verstehen, dass diese (unbekannte) Person und nicht Dr. R. die Hygienevorschriften nicht hinreichend beachtet hatte. Landgericht und Oberlandesgericht waren davon ausgegangen, dass auch dies streitig sei und hatten auf dieser Grundlage eine Beweislastentscheidung zu Lasten des Klägers getroffen.

Entscheidung

Der BGH den Beschluss des OLG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen:

„1. Zwar geht das Berufungsgericht zutreffend und von der Revision nicht angegriffen davon aus, dass der Kläger für den behaupteten Behandlungsfehler (§ 630a Abs. 2 BGB) nach allgemeinen Grundsätzen die Darlegungs- und Beweislast trägt. Da nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kein für die Beklagte vollbeherrschbares Risiko vorlag, wird ein Behandlungsfehler nicht gemäß § 630h Abs. 1 BGB zugunsten des Klägers vermutet (…).

Die Revision beanstandet aber mit Erfolg, dass das Berufungsgericht angenommen hat, die Beklagte habe den Vortrag des Klägers – der Arzt habe keine Handschuhe getragen, keine Handreinigung durchgeführt und eine Spritze verwendet, die ihm zuvor zu Boden gefallen sei – ausreichend bestritten, § 138 Abs. 1 und 2, § 286 ZPO.

a) Die Beklagte hatte vorgetragen, der venöse Zugang sei durch den Zeugen Dr. R gelegt worden. Dabei sei es nicht zu den von dem Kläger behaupteten Geschehnissen gekommen, sondern der notwendige Hygienestandard sei korrekt eingehalten worden.

Nachdem sich indes im Zuge der Beweisaufnahme herausgestellt hatte, dass nicht der Zeuge Dr. R, sondern – wovon das Berufungsgericht ausgeht – eine andere Person die Infusion gelegt hatte, hätte das Berufungsgericht dabei nicht stehen bleiben, von einem wirksamen Bestreiten ausgehen und auf dieser Grundlage annehmen dürfen, dass der Kläger den ihm obliegenden Beweis für einen Behandlungsfehler nicht erbracht habe. Denn unter Berücksichtigung des Beweisergebnisses lag ein beachtliches Bestreiten nicht (mehr) vor.

Anderenfalls könnte sich der Prozessgegner durch beliebigen, sich als unzutreffend erweisenden Vortrag der ihm gemäß § 138 Abs. 1 und 2 ZPO obliegenden Erklärungspflicht entledigen, ohne die Folge des § 138 Abs. 3 ZPO gewärtigen zu müssen (…). Das ist mit der aus den verfassungsrechtlich geschützten Rechten auf ein faires Verfahren und auf effektiven Rechtsschutz folgenden Verpflichtung zu einer fairen Verteilung der Darlegungs- und Beweislasten (…) nicht zu vereinbaren.

Das Berufungsgericht hätte die Beklagte daher unter Hinweis auf ihr nicht beachtliches Bestreiten zur Stellungnahme zu dem bisherigen Beweisergebnis auffordern müssen, § 513 Abs. 1 Alt. 1, § 525, § 139 Abs. 1 ZPO.

Das hätte – worauf die Revision zu Recht hinweist – hier umso mehr nahegelegen, als der Zeuge Dr. R nach den Feststellungen ausgesagt hatte, in den Behandlungsunterlagen des Klägers sei die Eintragung bezüglich der Infusion von jemand anderem vorgenommen worden.“

Anmerkung

Das scheint unmittelbar einleuchtend, verdeutlicht aber, dass auch nach Durchführung einer Beweisaufnahme noch einmal sorgfältig geprüft werden muss, ob sich die nicht darlegungs- und beweisbelastete Partei zu den Behauptungen der darlegungs- und beweispflichtigen Partei überhaupt hinreichend erklärt hat. Erklärt sich der Prozessgegner zum „neuen“ Ergebnis der Beweisaufnahme nicht unaufgefordert, muss das Gericht ihn als Ausfluss seiner Hinweispflicht dazu auffordern, sich zu diesem Ergebnis zu erklären. Der Fall zeigt dabei sehr deutlich, warum ein sauberes Arbeiten auch praktisch einen erheblichen Unterschied macht:
  • Ist  die streitige Tatsache: „Dr. P hat die Infusion nicht hygienisch gelegt“, dann hat die Beklagte ihrer Darlegungslast genügt. Sie muss dann im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast nicht Personen benennen, auf deren Zeugnis der Kläger seine (davon abweichende) Behauptung stützen kann.
  • Ist aber die streitige Tatsache „der behandelnde Arzt hat die Infusion nicht hygienisch gelegt“, kann die Beklagte sich zu dieser Tatsache kaum erklären, ohne die Person zu benennen (§ 138 Abs. 4 ZPO), da ihr in ihrem Herrschaftsbereich äußerst umfangreiche Nachforschungspflichten obliegen. Und wenn die Beklagte diese Person benennt, kann sich der Kläger wiederum auf deren Zeugnis berufen.
tl;dr: Ein Bestreiten kann unbeachtlich werden, wenn sich der zugrundeliegende Sachvortrag nach Durchführung der Beweisaufnahme als unzutreffend darstellt. Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil vom 24.11.2020 – IV ZR 415/19. Foto: © Ehssan Khazaeli