Anwaltliche Sorgfaltspflichten im elektronischen Rechtsverkehr

Die ERV-/beA-Nutzungspflicht zum 01.01.2022 (§ 130d ZPO) rückt mit großen Schritten näher. Umso praktisch wichtiger scheint eine aktuelle Entscheidung des OLG Dresden vom 01.06.2021 – 4 U 351/21, in der es um die Sorgfaltspflichten bei der elektronischen Einreichung von Schriftsätzen geht.

Sachverhalt

In dem zugrunde liegenden Rechtsstreit hatte das Landgericht mit dem Klägervertreter am 2.2.2021 zugestellten Urteil die Klage abgewiesen. Die Berufungsschrift war am 1.3.2021 beim Oberlandesgericht eingegangen. Mit Verfügung vom 8.4.2021, dem Klägervertreter zugegangen am 15.4.2021, wies das Gericht den Kläger darauf hin, dass es beabsichtige, die Berufung zu verwerfen, weil diese nicht begründet worden sei. Mit am 20.4.2021 eingegangenem Schriftsatz beantragt der Kläger Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist und reichte diese mit Schriftsatz vom 11.5.2021 nach. Zum Wiedereinsetzungsantrag behauptete der Kläger(-vertreter), am 26.3.2021 einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 29.4.2021 über das besondere elektronische Anwaltspostfach eingereicht zu haben. Dieser sei offensichtlich infolge eines technischen Fehlers nicht beim Oberlandesgericht eingegangen. Dazu legte er ein Prüfprotokoll vom 26.03.2021 vor, dem zu entnehmen war, dass an diesem Tag eine „Allgemeine Nachricht“ aus dem beA des Prozessbevollmächtigten versandt und am selben Tage um 15:21:10 Uhr auf dem Server des OLG eingegangen war. Dem Prüfprotokoll war außerdem zu entnehmen, dass der Nachricht die Anhänge „Scan00005872.pdf“ bzw. „Scan00005872.pdf.p7s“ beigefügt waren. Unter diesem Datum und mit dieser Dateibezeichnung war auf dem Server des OLG jedoch nicht der behauptete Fristverlängerungsantrag vom 26.3.2021, sondern vielmehr ein Schreiben der Geschäftsstelle an den Prozessbevollmächtigten vom 12.3.2021 eingegangen. In der eidesstattlichen Versicherung der Kanzleimitarbeiterin hatte diese angegeben, die beA Nachricht versandt und nach der Versendung das Prüfprotokoll auf Fehlermeldungen untersucht zu haben. Danach war also offensichtlich, dass die Kanzleiangestellte der beA-Nachricht die falschen Dateien angehängt hatte.

Der Kläger hatte hier zwar rechtzeitig Berufung eingelegt, eine Begrünung war aber innerhalb der Berufungsbegründungsfrist (§ 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO) nicht beim OLG eingegangen. Auf einen entsprechenden Hinweis des OLG beantragte der Kläger deshalb, ihm gem. §§ 233 ff. ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag war statthaft, weil es sich um eine der in § 233 ZPO genannten Fristen handelte. Wiedereinsetzung kann jedoch gem. § 233 Satz 1 ZPO nur gewährt werden, wenn die Partei „ohne ihr Verschulden verhindert“ war, die Frist einzuhalten. Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten ist ihr dabei gem. § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen. Deshalb stellte sich hier die Frage, ob dem Kläger bzw. seinem Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) tatsächlich kein Verschulden daran traf, dass die falschen Dateien übersandt worden waren.

Entscheidung

Das OLG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen.

„Das Fristversäumnis beruht auf einem Verschulden seines Prozessbevollmächtigten, dass sich der Kläger gem. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss. (…)

Im Interesse seiner der Rechtspflege gewidmeten eigenverantwortlichen Tätigkeit darf ein Rechtsanwalt zwar routinemäßige Büroarbeiten auf Mitarbeiter delegieren. Hierzu gehört grundsätzlich auch die Erledigung der ausgehenden Post auch über das besondere elektronische Anwaltspostfach, mit der jedenfalls eine voll ausgebildete, erfahrene Rechtsanwaltsfachangestellte beauftragt werden darf (…).

Der Rechtsanwalt hat aber durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Hierzu hat er grundsätzlich sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen (…).

a) Bei einer Übermittlung per Telefax genügt der Rechtsanwalt seiner Pflicht zur wirksamen Ausgangskontrolle fristwahrender Schriftsätze nur dann, wenn er seine Angestellten anweist, nach einer Übermittlung per Telefax anhand des Sendeprotokolls zu prüfen, ob die Übermittlung vollständig und an den richtigen Empfänger erfolgt ist. Erst danach darf die Frist im Fristenkalender gestrichen werden (…).

b) Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs per beA entsprechen denen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax (…). Auch hier ist es unerlässlich, den Versandvorgang selbst zu überprüfen. Dies hat zum einen durch eine Kontrolle der dem Telefax-Sendeprotokoll vergleichbaren automatisierten Eingangsbestätigung (§ 130a Abs. 5 ZPO) zu erfolgen, die dem Einreichenden Sicherheit gibt, dass der Sendevorgang erfolgreich war und deren Ausbleiben den Rechtsanwalt zur Überprüfung und ggf. zur erneuten Übermittlung veranlassen muss (…).

c) Diese Kontrolle darf sich jedoch nicht auf den Ausschluss bloßer Fehlermeldungen beschränken, wie er hier erfolgt ist.

Im Hinblick auf die erhebliche Gefahr von Fehlversendungen ist daneben eine Prüfung erforderlich, ob tatsächlich auch die richtige Datei versandt wurde. Diese spezifische Gefahrenlage unterscheidet den Versand über das besondere elektronische Anwaltspostfach insbesondere von dem Versand per Telefax, bei dem das Original des Schriftsatzes händisch in das Telefax-Gerät eingelegt wird, was eine Verwechslung bei einfacher Sichtkontrolle sicher ausschließt. Da bei der Versendung über das beA die Dateiauswahl durch bloßen „Mausklick“ aus einer Vielzahl von Dateien erfolgt und auch der elektronischen Eingangsbestätigung des Gerichts keine über die Zuordnung zu einem bestimmten Verfahren hinausgehende Individualisierung der übermittelten Datei zu entnehmen ist, muss der Rechtsanwalt durch eine Organisationsanweisung oder durch konkrete Einzelanweisung sicherstellen, dass jeder fristgebundene Schriftsatz mit einem diese Individualisierung ermöglichenden Dateinamen versehen wird, der später anhand von Prüfprotokoll und Eingangsbestätigung die Kontrolle auf Fehlversendungen ermöglicht (…). Denn andernfalls kann ohne Öffnung der versandten Datei nicht nachvollzogen werden, welcher Schriftsatz unter dem Aktenzeichen versandt wurde (…).

d) Zu einer solchen Anweisung ist in dem Wiedereinsetzungsantrag und der zu seiner Glaubhaftmachung vorgelegten eidesstattlichen Versicherung vom 19.4.2021 nichts vorgetragen.“

Anmerkung

Und das ist – worauf der Senat auch hinweist – nichts Neues und entspricht der Rechtsprechung des BGH (Beschluss vom 17. März 2020 – VI ZB 99/19 Rn. 16) und auch der Soll-Regelung in § 2 Abs. 2 ERVV. Wohl auch deshalb ist gegen den Beschluss keine Rechtsbeschwerde eingelegt worden. Aussagekräftige Dateinamen bei ERV-Eingängen sind allerdings nach meiner (selbstverständlich nicht repräsentativen) Erfahrung nicht der Regelfall. Das legt es nahe, dass es an entsprechenden Weisungen in vielen Fällen (noch) fehlt. tl;dr: Vor der Versendung eines fristgebundenen Schriftsatzes über das beA ist durch Organisationsanweisung sicherzustellen, dass a) der Schriftsatz mit einem die hinreichende Individualisierung ermöglichenden Dateinamen versehen und b) die Prüfung des Sendevorgangs auf den Ausschluss von Dateiverwechslungen erstreckt wird. Die bloße Kontrolle von Prüfprotokoll und Eingangsbestätigung auf technische Übermittlungsfehler reicht nicht aus. Anmerkung/Besprechung, OLG Dresden, Beschluss vom 01.06.2021 – 4 U 351/21.

Foto: Dresden, Ständehaus