Beweisführung allein durch Parteianhörung?

Der Beschluss des BGH vom 10.03.2021 – XII ZR 54/20 sollte eigentlich nur ein „ZPO-Tipp“ in den sozialen Netzwerken werden. Die Entscheidung erschien mir dann aber bei näherer Betrachtung doch einen eigenen Blogbeitrag „wert“. Denn darin geht es (auch) um praktisch ständig wiederkehrende Fragen der Beweiswürdigung bzw. Feststellung i.S.d. § 286 Abs. 1 ZPO.

Sachverhalt

Die Klägerin lebte mit dem Erblasser seit 2004 in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Als dieser 2015 überraschend verstarb, wurde (gesetzliche) Erbin u.a. die Beklagte. Diese wird von der Klägerin auf Rückzahlung eines Betrages von rund 200.000 EUR unter dem Gesichtspunkt des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) bzw. der unberechtigten Bereicherung (§ 812 Abs. 1 Satz 2 BGB) in Anspruch genommen. Die Klägerin behauptet dazu, es habe sich bei den 200.000 EUR nicht um eine Schenkung an den Erblasser gehandelt. Die Mittel hätten vielmehr dazu gedient, Grundstücke des Erblassers zu finanzieren. Auf eine Absicherung eines etwaigen Rückzahlungsanspruchs sei verzichtet worden, weil sie und der Erblasser 2016 hätten heiraten wollen und davon ausgegangen seien, dass mit der Hochzeit ohnehin alles gemeinschaftliches Eigentum werde. Zum Beweis der Heiratsabsicht hatte die Klägerin drei Zeugen benannt. Das Landgericht hörte lediglich die Klägerin an und gab der Klage allein gestützt auf den Inhalt dieser Anhörung statt. Dabei ging es davon aus, dass die Parteien tatsächlich 2016 eine Hochzeit geplant hatten und dass es sich vor diesem Hintergrund nicht um eine Schenkung, sondern um eine gemeinschaftsbezogene Zuwendung gehandelt habe. Das Oberlandesgericht wies auf die Berufung der Beklagten die Klage ohne erneute Anhörung der Klägerin und ohne Vernehmung der Zeugen ab und führte zur Begründung u.a. aus: Es erschließe sich schon nicht, warum das Paar nach mehr als elf Jahren Zusammenlebens ohne Trauschein nun plötzlich habe heiraten wollen. Glaubwürdig sei auch nicht die Angabe der Klägerin, man habe wegen der bevorstehenden Hochzeit auf die Kosten einer Eigentumsumschreibung verzichtet, weil sie davon ausgegangen sei, dass mit der Eheschließung alles gemeinschaftliches Eigentum werde. Denn die Eheschließung ändere an den Eigentumsverhältnissen nichts und führe im Hinblick auf die streitgegenständliche Zahlung auch nicht zu irgendeiner Form der dinglichen Absicherung. Dagegen wendete sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

Da der Erblasser offensichtlich kein Testament hinterlassen hatte, hatte seine Lebensgefährtin nichts geerbt, stattdessen war die gesetzliche Erbfolge eingetreten, wodurch u.a. die Schwester des Erblassers zur Erbin geworden war. Die Lebensgefährtin verlangte deshalb von dieser rund 200.000 EUR zurück, die sie dem Erblasser für die Finanzierung eines Grundstückskaufs überlassen hatte und berief sich dabei auf einen Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) bzw. auf eine Zweckverfehlung (§ 812 Abs. 1 Satz 2 Var. 2 BGB). (Die Entscheidung könnte damit ein guter Anlass sein, sich mit den praxis- wie examensrelevanten Fragen rund um die Abwicklung nichtehelicher Lebensgemeinschaften zu befassen.) Die Beklagte berief sich allerdings auf eine Schenkung. Deshalb musste die Klägerin beweisen, dass die 200.000 EUR eine sog. gemeinschaftsbezogene Zuwendung waren (sie also beiden Lebensgefährten zugutekommen sollten) und sie diese dem Erblasser nicht etwa geschenkt hatte. Das war deshalb schwierig, weil es sich bei dem Zweck der Zuwendung um eine sog. „innere“ Tatsache handelt, welche nicht unmittelbar dem Beweis zugänglich ist (ähnlich wie z.B. die Kenntnis einer Tatsache oder der Vorsatz). Die Klägerin musste also Hilfstatsachen (Indizien) vortragen und ggf. beweisen, welche den Schluss auf diese Haupttatsache (gemeinschaftsbedingte Zuwendung und keine Schenkung) zuließen. Deshalb hatte sie vorgetragen, dass eine Hochzeit geplant war (und dafür drei Zeugen benannt) und sie dabei dem (unter Laien weit verbreiteten) Irrtum erlegen war, mit der Hochzeit werde alles Eigentum zum gemeinsamen Eigentum der Ehegatten. Das Landgericht hatte die Klägerin gem. § 141 Abs. 1 ZPO angehört und war auf dieser Grundlage – ohne Vernehmung der drei Zeugen – davon ausgegangen, dass dieser Vortrag wahr war. Es hatte der Klage deshalb stattgegeben. Das OLG fand das hingegen nicht überzeugend und hatte die Klage – ebenfalls ohne Vernehmung der Zeugen – abgewiesen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 544 ZPO).

Entscheidung

Der Senat hat die Entscheidung des OLG wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gem. § 544 Abs. 9 ZPO aufgehoben und die Sache an einen anderen Senat des OLG zurückverwiesen.

„Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass dem angefochtenen Urteil ein entscheidungserheblicher Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zugrunde liegt, weil es versäumt hat, den entscheidungserheblichen Sachvortrag der Klägerin in der nach Art. 103 Abs. 1 GG gebotenen Weise zur Kenntnis zu nehmen und die angebotenen Beweise zu erheben (…).

a) Das Oberlandesgericht hat sich bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Klägerin tragend auch darauf gestützt, dass ihre Angaben zur im Hinblick auf eine für 2016 gemeinsam beabsichtigte Eheschließung mit dem Erblasser unterlassenen dinglichen Absicherung der Zahlung nicht glaubhaft seien. Insoweit hat es sich anhand des Sachvortrags und der persönlichen Anhörung der Klägerin keine Überzeugung bilden können und den der Klägerin obliegenden Beweis damit als nicht geführt erachtet. Dabei hat es aber wesentliches Vorbringen der Klägerin übergangen.

Die Würdigung der Angaben der Klägerin ist bereits mit Denkfehlern und Verstößen gegen Erfahrungssätze behaftet, wie etwa dem Vorhalt, nicht für die grundbuchmäßige Absicherung eines – vor dem Ableben gar nicht bestehenden – Anspruchs gesorgt zu haben, oder dem sachfremd angebrachten generellen Argwohn gegen eine Eheschließungsabsicht nach elf Jahren des Zusammenlebens. Abgesehen davon hätte das Oberlandesgericht die Behauptung der Klägerin jedenfalls nicht als unbewiesen behandeln dürfen, ohne die über ihre persönliche Anhörung hinaus noch angetretenen förmlichen Beweise vollständig zu erheben und zu würdigen.

b) 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. (…)

c) Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht.

Die Klägerin hatte bereits mit ihrer Klageschrift Beweis dafür, dass sie und der Erblasser ihre Eheschließung für das Frühjahr 2016 geplant hatten, angetreten durch Vernehmung dreier Zeugen, darunter ihr erstinstanzlicher Prozessbevollmächtigter. Im Rahmen ihrer Berufungserwiderung hat sie sich auf ihren Vortrag in der ersten Instanz einschließlich der dort angebotenen Beweise bezogen.

Zwar musste das Landgericht den Zeugenbeweis nicht erheben, nachdem es seine Überzeugungsbildung bereits auf die Angaben der Klägerin allein gestützt hatte. Wollte jedoch das Oberlandesgericht abweichend davon den Beweis über die von der Klägerin aufgestellte Behauptung nicht bereits durch das Ergebnis ihrer persönlichen Anhörung als geführt ansehen, so musste es entweder die weiter angebotenen Zeugenbeweise zusätzlich erheben und würdigen oder – wenn es den über die innere Tatsache der Eheschließungsabsicht angetretenen Zeugenbeweis als nicht hinreichend mit beweiszugänglichen Indiztatsachen unterlegt ansah – die Klägerin darauf hinweisen. Indem es dies unterlassen hat, hat es das rechtliche Gehör der Klägerin verletzt.“

Anmerkung

Und das ist in der Sache nichts Neues, und zwar weder insoweit, als das Gericht die Zeugen hätte vernehmen müssen, noch als das Gericht auf die Unschlüssigkeit des Indizienbeweises hätte hinweisen müssen, wenn es diese anders beurteilen wollte, als die Vorinstanz. Wichtig ist die Entscheidung wegen der (völlig beiläufigen) Klarstellung, dass das Landgericht seine Überzeugung (selbstverständlich) auch allein auf die Anhörung der Klägerin stützen durfte und zwar ohne dass sich diese in Beweisnot befand oder eine sog. „Vier-Augen-Konstellation“ vorlag. Anlass zur Vernehmung der (hauptbeweislich benannten) Zeugen bestand nach Ansicht des BGH erst, als das OLG seine Überzeugung nicht allein auf den Inhalt der Parteianhörung stützen wollte/konnte. Das klingt zwar vielleicht überraschend, ist aber zwingende Folge der freien Beweiswürdigung in § 286 Abs. 1 ZPO, wonach sich das Gericht seine Überzeugung unter Berücksichtigung des „gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme“ bilden muss. Und zum „Inhalt der Verhandlungen“ im vorgenannten Sinne gehört ganz wesentlich der Inhalt einer Parteianhörung. Dieser Umstand ist jedoch praktisch immer noch erstaunlich unbekannt (möglicherweise auch, weil er in der Ausbildung kaum gelehrt wird und der Schwerpunkt dort auf „SAPUZ“ liegt und weil die Terminologie „Beweiswürdigung“ und „Beweisführung“ missverständlich ist). So wird in Berufungen immer wieder gerügt, das Gericht habe die streitige Tatsache nicht feststellen dürfen, weil für sie doch gar kein Beweis angetreten worden sei. Dabei kann das Gericht eine streitige Tatsache selbstverständlich auch ohne Erhebung der angebotenen (Haupt-)Beweise seiner Entscheidung zugrunde legen, wenn es seine Überzeugung auf andere Umstände wie z.B. den Inhalt einer Parteianhörung gem. § 141 Abs. 1 ZPO stützen kann, und zwar ganz unabhängig von Gesichtspunkten der sog. Waffengleichheit (s. dazu ausführlich Kockentiedt/Windau, NJW 2019, 3348). Es muss allerdings – ebenso selbstverständlich – etwaig angegebene Gegenbeweise erheben. Erst wenn das Ergebnis dieser (Gegen-)Beweisaufnahme das Maß der Überzeugung wieder unter die für § 286 Abs. 1 ZPO erforderliche Schwelle drückt, besteht Anlass, die hauptbeweislich benannten Beweise zu erheben. tl;dr: Ein Gericht muss angebotene (Haupt-)Beweisenicht erheben, wenn es seine Überzeugungsbildung i.S.d. § 286 Abs. 1 ZPO auch auf andere Umstände wie beispielsweise den Inhalt einer Parteianhörung stützen kann. Anmerkung/Besprechung, BGH, Beschluss vom 10.03.2021 – XII ZR 54/20. Foto: © Ehssan Khazaeli