BGH zur Beweiswürdigung bei Widerspruch zwischen Privat- und Gerichtsgutachten

Welchen Anforderungen müssen Beweisaufnahme und Beweiswürdigung genügen, wenn ein Privatsachverständiger einer Partei und der gerichtliche Sachverständige zu verschiedenen Ergebnissen kommen? Das hat der BGH mit Beschluss vom 26.02.2020 – IV ZR 220/19 sehr lesenswert dargestellt.

Sachverhalt

Der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung geltend. Die Beklagte erkannte zunächst ihre Leistungspflicht an, stellte die Leistungen aber später ein und berief sich darauf, dass keine Berufsunfähigkeit mehr bestehe. Dazu berief sie sich auf ein von ihr im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens eingeholtes psychiatrisches Gutachten. Der Kläger stützt sich ebenfalls auf ein von ihm in Auftrag gegebenes fachpsychiatrisches Gutachten, in dem ihm eine weiter bestehende Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % bescheinigt wird. Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens abgewiesen, das OLG hat ihr nach Anhörung des Klägers und ergänzender Vernehmung des gerichtlichen Sachverständigen stattgegeben. Es hat dies damit begründet, dass die Beklagte nicht habe beweisen können, dass der Kläger nicht mehr berufsunfähig sei. Die Feststellung des gerichtlichen Sachverständigen, dass keine Berufsunfähigkeit mehr vorliege, sei nicht schlüssig, weil sich dieser nicht überzeugend mit den Ausführungen der vom Kläger beauftragten Privatgutachterin auseinandergesetzt habe. Letztere habe im Einzelnen aufgeschlüsselt, welche Fähigkeit der Kläger für seinen bisher ausgeübten Beruf benötige und diese Fähigkeiten prozentual eingeschätzt. Der gerichtliche Sachverständige habe demgegenüber lediglich ausgeführt, der Kläger müsse aufgrund der langjährigen Psychotherapie inzwischen wieder in seiner ursprünglichen Tätigkeit arbeiten können.

Streitig zwischen den Parteien war hier (nur noch) eine Tatsachenfrage, nämlich ob die Arbeitsunfähigkeit des Klägers zwischenzeitlich wieder entfallen war. Insoweit gab es jeweils ein von den Parteien eingeholtes Privatgutachten und ein vom Gericht eingeholtes Gutachten. Nur das vom Gericht eingeholte Gutachten war dabei ein solches i.S.d. §§ 402 ff. ZPO; die von den Parteien eingeholten Gutachten sind nach der Konzeption der ZPO keine Gutachten, sondern „nur“ äußerst substantiierter (und fachkundiger) Sachvortrag. Das OLG war hier nicht dem – auf Antrag der Beklagten, die insoweit beweispflichtig war, eingeholten – Gutachten des vom Gericht bestellten Sachverständigen gefolgt, sondern im Ergebnis dem vom Kläger beigebrachten „Gutachten“. Das allein war kein Problem, weil das Gericht seine Überzeugung nicht nur auf die formellen Beweismittel stützen darf, sondern gem. § 286 Abs. 1 ZPO unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden hat, welche Tatsachen es für wahr hält. Fraglich war aber, ob das Gericht wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, die Wahrheit zu ermitteln, und die Beklagte daher als beweisfällig behandeln durfte.

Entscheidung

Der IV. Zivilsenat hat das Urteil auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin aufgehoben und die Sache gem. § 544 Abs. 9 ZPO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

„1. Legt eine Partei ein medizinisches Gutachten vor, das im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen steht, so ist vom Tatrichter besondere Sorgfalt gefordert. Er darf in diesem Fall – wie auch im Fall sich widersprechender Gutachten zweier gerichtlich bestellter Sachverständiger – den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt.

Einwände, die sich aus einem Privatgutachten gegen das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen ergeben, muss das Gericht ernst nehmen, ihnen nachgehen und den Sachverhalt weiter aufklären. Dazu kann es den Sachverständigen zu einer schriftlichen Ergänzung seines Gutachtens veranlassen. Insbesondere bietet sich die mündliche Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen gemäß § 411 Abs. 3 ZPO an. Ein Antrag der beweispflichtigen Partei ist dazu nicht erforderlich.

Gegebenenfalls hat das Gericht den Sachverständigen unter Gegenüberstellung mit dem Privatgutachter anzuhören, um dann entscheiden zu können, wieweit es den Ausführungen des Sachverständigen folgen will.

Wenn der gerichtlich bestellte Sachverständige weder durch schriftliche Ergänzung seines Gutachtens noch im Rahmen seiner Anhörung die sich aus dem Privatgutachten ergebenden Einwendungen auszuräumen vermag, muss der Tatrichter im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung gemäß § 412 ZPO ein weiteres Gutachten einholen (...).

2. Diese Vorgaben hat das Berufungsgericht nicht ausreichend beachtet.

a) Nicht zu beanstanden ist allerdings, dass es das Gutachten des (gerichtlichen Sachverständigen) in Anbetracht der gegenteiligen Ausführungen der (Sachverständigen der Klägerin) für nicht ausreichend gehalten hat.

Insoweit ist es seiner Aufgabe der kritischen Würdigung des Gerichtsgutachtens unter Berücksichtigung eines Privatgutachtens gegenteiligen Inhalts gerade nachgekommen. Im Übrigen ist die Würdigung erhobener Beweise und damit auch die von Sachverständigengutachten grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten. Das Revisionsgericht prüft lediglich nach, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (...). Derartige Verstöße sind hier nicht feststellbar. (…)

b) Auf Grundlage dieser Annahme hätte das Berufungsgericht aber seiner Entscheidung nicht alleine das Privatgutachten der (Sachverständigen der Klägerin) sowie die Angaben des Klägers ohne weitere sachverständige Überprüfung zugrunde legen dürfen, sondern hätte ein weiteres Gutachten einholen müssen (…).

Bei dem vom Kläger vorgelegten Privatgutachten handelte es sich unbeschadet der Verpflichtung des Gerichts, ein solches Gutachten ernst zu nehmen und ebenfalls kritisch zu würdigen, nicht um ein Beweismittel; ein Privatgutachten ist vielmehr als besonders substantiierter Parteivortrag einzuordnen, der seinerseits Gegenstand einer Beweisaufnahme sein kann (…). Beweispflichtig für den Wegfall der Berufsunfähigkeit ist hier allerdings die Beklagte, deren Beweisantritt aber mit der Einholung eines nach der eigenen Auffassung des Berufungsgerichts unzureichenden Gutachtens nicht erschöpft war.

c) Zudem hat sich das Berufungsgericht nicht mit dem von der Beklagten eingeholten Privatgutachten auseinandergesetzt. Soweit es zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der Wegfall der Berufsunfähigkeit des Klägers nicht bewiesen sei, bestand auch insoweit die Verpflichtung, sich mit dagegen bestehenden Einwänden aus einem Privatgutachten – hier demjenigen des (Sachverständigen der Beklagten) – auseinanderzusetzen. Dieses war, anders als der Kläger meint, nicht schon deshalb entbehrlich, weil sich das Berufungsgericht mit dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen befasst hat, der zum selben Ergebnis wie (der Sachverständige der Beklagten) gelangt ist. Denn vom Berufungsgericht wird nicht dargelegt, dass das Gutachten (des Sachverständigen der Beklagten) denselben Bedenken begegnet, aufgrund derer es das Gerichtsgutachten für nicht überzeugend hielt. Es ist vielmehr auf dieses Gutachten gar nicht eingegangen.“

Anmerkung

Daraus lässt sich für die praktische Handhabung eine relativ einfache Anleitung ableiten: Ergeben sich Widersprüchen zwischen dem gerichtlichen Gutachten und dem Privatgutachten einer Partei, darf das Gericht weder dem gerichtlichen Gutachten ohne überzeugende Begründung folgen noch die beweispflichtige Partei vorschnell als beweisfällig ansehen. Es muss vielmehr im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten versuchen, die Widersprüche und damit den der Entscheidung zugrunde zu legenden Sachverhalt weitestmöglich aufzuklären, insbesondere „in eskalierender Reihenfolge“
  • zunächst den Widersprüchen nachzugehen und den gerichtlichen Sachverständigen um ergänzende Stellungnahme bitten oder anhören, auch von Amts wegen (§ 411 Abs. 3 ZPO),
  • ggf. den gerichtlichen Sachverständigen unter Gegenüberstellung mit dem Privatsachverständigen anhören,
  • ggf. gem. § 412 ZPO ein weiteres Gutachten (oft Obergutachten genannt) einholen.
Wichtig dürfte auch noch sein, dass sich das Gericht jeweils (auch) mit dem Privatgutachten der beweispflichtigen Partei auseinandersetzen muss, auf deren Antrag hin das gerichtliche Gutachten eingeholt wurde, bevor es diese als beweisfällig ansehen darf. Bleiben bei mir nur zwei praktische Fragen, auf die ich keine Antwort finde:
  • Was tut das Gericht, wenn auch das zweite Gutachten nicht überzeugend ist (und das Privatgutachten der Beklagten auch nicht)? Sind dann so lange Gutachten einzuholen, wie die Beklagte Auslagenvorschüsse einzahlt (oder eines das Gericht überzeugt)?
  • Wie ist der Privatsachverständige bei einer Gegenüberstellung zu entschädigen?
Update vom 03.07.: Der Privatsachverständige ist auch bei einer Gegenüberstellung nicht zu entschädigen (s. Ghassemi-Tabar/Nober, NJW 2016, 552, 554). Danke für die vielen Kommentare! tl;dr: Widersprüche zwischen dem Gutachten eines Privatsachverständigen und den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen muss das Gericht ernst nehmen, ihnen nachgehen und den Sachverhalt weiter aufklären.  Anmerkung/Besprechung, BGH, Beschluss vom 26.02.2020 – IV ZR 220/19. Foto: © Ehssan Khazaeli