BGH: Abweichende Beweiswürdigung in der Berufungsinstanz nur bei erneuter Vernehmung
Entscheidung
Der VI. Zivilsenat hat das Urteil wegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aufgehoben und die Sache zurückverwiesen:„Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht entgegen § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 398 ZPO von einer erneuten Zeugenvernehmung abgesehen hat, obwohl es die Aussagen der Zeugen im Ergebnis anders gewürdigt hat als das Landgericht.
a) Auch wenn die erneute Vernehmung von Zeugen grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts steht, ist es verpflichtet, einen in erster Instanz vernommenen Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es seine Glaubwürdigkeit anders als der Erstrichter beurteilen oder die protokollierte Aussage anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will (…).
Würdigt das Berufungsgericht eine Zeugenaussage anders als das erstinstanzliche Gericht, ohne den Zeugen erneut selbst zu vernehmen, so verletzt es das rechtliche Gehör der benachteiligten Partei (…). Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Berufungsgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen (…).
b) Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verstoßen. Das Landgericht ist nach Vernehmung der Zeugen zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin die streitigen Erklärungen abgegeben und sich hiermit auf Pflichtteilsansprüche bezogen habe und dass der bereits am 22. April 2015 geschlossene Erlassvertrag mit der Vorgeschichte vereinbar sei. Dabei hat sich das Landgericht unter anderem auf die Bekundung der Zeugin S. gestützt, der Pflichtteilsverzicht sei zu Lebzeiten der Erblasserin nur deshalb nicht zustande gekommen, weil es einen Streit um eine Wiese gegeben habe.
Soweit das Berufungsgericht es demgegenüber für möglich halten wollte, die streitigen Erklärungen nur auf konkrete „erarbeitete“ Gegenstände zu beziehen, und einen auf Pflichtteilsansprüche bezogenen Verzichtswillen der Klägerin als unwahrscheinlich erachtet hat, durfte es von einer erneuten Vernehmung der Zeugen nicht deshalb absehen, weil es die vom Beklagten behaupteten Äußerungen als abgegeben unterstellt hat. Zu den Voraussetzungen einer zulässigen Wahrunterstellung gehört, dass die Behauptung so übernommen wird, wie die Partei sie aufgestellt hat (…). Das Berufungsgericht hat seiner Würdigung jedoch allein den äußeren Wortlaut der Erklärungen, nicht aber das dazugehörige - vom Landgericht als erwiesen erachtete - Vorbringen des Beklagten zu den sinngebenden und begleitenden Umständen zugrunde gelegt. Damit hat es nicht lediglich eine vom Landgericht abweichende Auslegung der erstinstanzlich festgestellten Erklärung vom 22. April 2015 vorgenommen (…).
Der Verpflichtung zur erneuten Zeugenvernehmung konnte sich das Berufungsgericht auch nicht dadurch entziehen, dass es von einer eingehenden Auseinandersetzung mit der landgerichtlichen Beweisaufnahme und -würdigung abgesehen und seine Entscheidung in erster Linie auf unstreitige Umstände, insbesondere das Scheitern des Pflichtteilsverzichtsvertrages und die familiäre Situation, gestützt hat (…).
Hat das erstinstanzliche Gericht zu streitigen Äußerungen und den Umständen, unter denen sie abgegeben worden sind, Zeugen vernommen und ist es aufgrund einer Würdigung der Aussagen zu einem bestimmten Ergebnis gekommen, so kann das Berufungsgericht diese Auslegung nicht ohne weiteres verwerfen und zum gegenteiligen Ergebnis kommen, ohne zuvor die Zeugen gemäß § 398 Abs. 1 ZPO selbst vernommen zu haben (…).
Dementsprechend war es unzulässig, einen Verzichtswillen der Klägerin ohne erneute Zeugenvernehmung allein mittels einer Gesamtbetrachtung zu verneinen, zumal unter den gegebenen Umständen der Übergang zwischen Tatsachenfeststellung und rechtlicher Würdigung fließend ist (…) und die vom Berufungsgericht angestellten Erwägungen nur den Schluss zulassen, dass es den Aussagen und Eindrücken der Zeugen S. und Z. anders als das Landgericht keine Bedeutung beimessen wollte (…).“