BGH zu Beweislast­entscheidung ohne Bauteilöffnung

Mit dem Dauerbrenner „Bauteilöffnungen durch Sachverständige“ hat sich der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 23.09.2020 – IV ZR 88/19 befasst und dabei einige in dem Zusammenhang praktisch sehr relevante Fragen beantwortet.

Sachverhalt

Die Klägerin nimmt den beklagten Wohngebäudeversicherer auf Ersatz eines Hochwasserschadens in Anspruch. Zwischen den Parteien steht dabei im Streit, ob das Haus durch Wassereintritt (auch) am Fundament zerstört wurde, weil Wasser zwischen der sogenannten „schwarzen Wanne“ und dem Betonfundament eingetreten sei. Die vom Gericht bestellte Sachverständige hat festgestellt, dass sich bei einer Begehung des Hauses keine Anhaltspunkte für eine Beschädigung des Fundaments ergeben hätten. Feststellungen seien allenfalls nach einer Bauteilöffnung möglich, diese werde von der Klägerin aber verweigert. Das Landgericht hat eine entsprechende Weisung an die Sachverständige abgelehnt, die Klägerin für beweisfällig gehalten und die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung mit der Begründung zurückgewiesen und sich dabei auf die erstinstanzlichen Feststellungen gestützt. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der zugelassenen Revision.

Der Klägerin stand ein Anspruch gegen den beklagten Versicherer nur zu, wenn sie beweisen konnte, dass das Hochwasser (auch) das Fundament des Gebäudes beschädigt hatte. Die vom Gericht bestellte Sachverständige hatte aber festgestellt, dass eine solche Beschädigung „von Außen“ nicht festgestellt werden könne. Ggf. sei aber eine Feststellung nach einer sog. „Bauteilöffnung“ möglich (d.h. vermutlich, nachdem das Fundament aufgestemmt oder in ähnlicher, beschädigender Weise „geöffnet“ worden war). Die Klägerin weigerte sich, diese Öffnung vorzunehmen und wollte, dass das Gericht die Sachverständige anweist, dass dieser die Öffnung vornehme. (Das hatte Haftungsgründe: Wenn bei der Öffnung durch die Sachverständige etwas schief geht, haftet dafür die Sachverständige bzw. deren Haftpflichtversicherung.) Ob Sachverständige durch das Gericht angewiesen werden können, ggf. mit Hilfe Dritter ein Bauteil zu öffnen, ist äußerst umstritten; dies wird teilweise unter Berufung auf § 404a Abs. 1 ZPO bejaht. Das Landgericht hatte sich aber auf den Standpunkt gestellt, darauf komme es nicht an. Denn eine Weisung gem. § 404a Abs. 1 ZPO stehe in seinem Ermessen und dies übe es dahin aus, eine solche Weisung nicht zu erteilen. Dagegen wendete sich die Klägerin zunächst mit der Berufung und schließlich mit der Revision.

Entscheidung

Die Revision hatte ebenfalls keinen Erfolg:

„Soweit das Berufungsgericht weiter zu der Auffassung gelangt ist, die Klägerin habe den ihr obliegenden Beweis einer Zerstörung des Gebäudes durch eine hochwasserbedingte Beschädigung des Fundaments nicht geführt, ist auch das aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

a) Insoweit durfte sich das Berufungsgericht gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die auf Grundlage des gerichtlichen Sachverständigengutachtens getroffenen tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts gebunden sehen. (…)

b) Derartige konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der vom Landgericht festgestellten Tatsachen bestanden nicht.

Keinen Bedenken begegnen insbesondere die vom Berufungsgericht gebilligten Feststellungen des Landgerichts zu der von der Sachverständigen für eine eingehende Untersuchung des Fundaments für erforderlich erachteten, tatsächlich aber nicht durchgeführten Bauteilöffnung. Entgegen der Auffassung der Revision waren die Vorinstanzen auch im Rahmen eines ihnen nach § 404a Abs. 1, Abs. 4 ZPO etwa eingeräumten Ermessens nicht zu einer entsprechenden Weisung an die Sachverständige verpflichtet.

aa) Allerdings hat das Gericht gemäß § 404a Abs. 1, Abs. 4 ZPO von Amts wegen die Pflicht, die Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten und ihm in diesem Rahmen gegebenenfalls für Art und Umfang seiner Tätigkeit Weisungen zu erteilen. Damit ist klargestellt, dass der Gutachter Gehilfe des Gerichts ist und ihm vom Gericht vorgegeben werden kann, was rechtlich bedeutsam ist (…). Das gerichtliche Weisungsrecht umfasst damit neben den inhaltlichen Vorgaben, die der Sachverständige seiner Begutachtung zugrunde zu legen hat, grundsätzlich auch die zur Beantwortung der Beweisfrage erforderlichen Maßnahmen, die der Begutachtung selbst oder deren Vorbereitung dienen und der Sachkunde des gerichtlich bestellten Gutachters bedürfen, sowie Weisungen zur Art und Weise des bei der Untersuchung des Beweisgegenstands gebotenen Vorgehens (…).

bb) Ob dieses grundsätzliche Weisungsrecht des Gerichts danach auch die Befugnis umfasst, einen Sachverständigen speziell zur Vornahme einer Bauteilöffnung anzuweisen, soweit diese für die Begutachtung erforderlich ist (…), kann im Streitfall allerdings offenbleiben. Denn selbst wenn man dieses annimmt, so ist die von Amts wegen zu treffende Entscheidung darüber, ob das Gericht dem Sachverständigen nach den konkreten Umständen des Einzelfalls eine Weisung gemäß § 404a Abs. 1, Abs. 4 ZPO zur Durchführung einer für die Begutachtung erforderlichen Maßnahme – hier die einer Bauteilöffnung – erteilt, dann jedenfalls in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt (…).

cc) Ein ihm etwa zustehendes Ermessen aber hat das Berufungsgericht mit der Ablehnung, im Streitfall eine Weisung an die Sachverständige zu erteilen, jedenfalls rechtsfehlerfrei ausgeübt.

(1) Dabei ist die Handhabung des nach § 404a Abs. 1, Abs. 4 ZPO eingeräumten Ermessens im Revisionsverfahren nur daraufhin überprüfbar, ob das Gericht die Notwendigkeit zur Ausübung seines Ermessens verkannt oder sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat (…).

(2) Derartige Ermessensfehler liegen im Streitfall nicht vor.

(a) Das Berufungsgericht hat entgegen dem Vorbringen der Revision erkannt, dass die Erteilung einer Weisung eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen den Interessen der beweispflichtigen Partei und den mit einer Durchführung des Gutachtenauftrags für den Sachverständigen verbundenen Anforderungen voraussetzt und hierbei den Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit und der Zumutbarkeit einzelfallbezogen Rechnung zu tragen ist.

(b) Bei seiner Ermessensentscheidung kann das Gericht den möglichen Erkenntniswert und die Verhältnismäßigkeit einer Weisung, aber auch berechtigte Belange des Sachverständigen oder Dritter berücksichtigen (…). Dass es im Streitfall den mit der Bauteilöffnung des Hausfundaments verbundenen besonderen Gefahren und daraus resultierenden Haftungsrisiken für die Sachverständige ausschlaggebendes Gewicht gegen die Erteilung einer Weisung nach § 404a Abs. 1, Abs. 4 ZPO beigemessen hat, hält sich im Rahmen des ihm etwa eingeräumten Ermessens.

Unbeschadet der Frage, welche Haftungsrisiken generell für einen Bausachverständigen bei der Durchführung einer Bauteilöffnung bestehen und wieweit er sich dagegen versichern kann (...), ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht im Rahmen seiner tatrichterlichen Würdigung des Einzelfalls entscheidend auf hier vorliegende besondere Risiken abgestellt hat, die sich nach seinen unangegriffenen und aus Rechtsgründen nicht zu beanstandenden Feststellungen daraus ergeben, dass die nicht zerstörungsfreie Untersuchung des Hausfundaments die Gefahr einer Beschädigung der Horizontal- oder Vertikalsperre birgt und die Sachverständige dies trotz ihrer Sachkunde und auch bei sorgfältiger Überwachung hinzugezogener Fachunternehmen nicht verhindern kann. Zu einer Bauteilöffnung unter Eingehung unkalkulierbarer (Haftungs-)Risiken braucht das Gericht einen Sachverständigen nicht anzuweisen (…).

Auf der anderen Seite hat das Berufungsgericht entgegen der Auffassung der Revision rechtsfehlerfrei berücksichtigt, dass das Unterbleiben einer Weisung nach § 404a Abs.1, Abs. 4 ZPO die Klägerin nicht von vornherein in Beweisnot bringt, da sie unter den Umständen des Streitfalls die Öffnung des Fundaments selbst hätte veranlassen können.

c) Schließlich begegnet die Anwendung der Beweislastregeln zulasten der Klägerin revisionsrechtlich keinen Bedenken, nachdem sich diese nach den unangegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht zu einer Öffnung des Fundaments bereit erklärt hat. Dass die Beweisfrage aufgrund der verfügbaren Beweismittel noch in anderer Weise zu klären gewesen wäre (...), ist nicht ersichtlich.

Anmerkung

Damit braucht der BGH (hier übrigens der IV. Zivilsenat) erneut nicht die Frage zu beantworten, ob das Gericht Sachverständige gem. § 404a Abs. 1 ZPO anweisen darf, eine Bauteilöffnung vorzunehmen, oder ob es den Parteien obliegt, Sachverständigen die Begutachtung zu ermöglichen (zum Meinungsstand s. OLG Schleswig, Beschluss vom 14.12.2017 – 16 W 152/17). Die vom IV. Zivilsenat gefundene „salomonische“ Lösung dürfte allerdings praktisch die Frage in meisten praktisch relevanten Fällen obsolet machen. Der Streit wird sich deshalb wohl dahin verschieben, ob das Gericht seine Ermessensentscheidung ausreichend und mit Bezug zum Einzelfall begründet hat und ob es vor der Beweislastentscheidung dokumentiert hat, dass alle anderen zur Verfügung stehenden Beweismöglichkeiten ausgeschöpft sind (s. dazu nachdrücklich BGH, Urteil vom 7.2.2019 – VII ZR 274/17) - und zwar auch dann, wenn das Hindernis (keine Bauteilöffnung) aus der Sphäre des Beweispflichtigen stammt. tl;dr: Konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der erstinstanzlich festgestellten Tatsachen i.S.d. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bestehen nicht, wenn das Gericht sein Ermessen fehlerfrei dahin ausübt, eine Sachverständige nicht anzuweisen, eine Bauteilöffnung vorzunehmen. Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil vom 23.09.2020 – IV ZR 88/19. Foto: © Ehssan Khazaeli