BGH: Keine abweichende Würdigung einer Zeugenaussage durch das Berufungsgericht

Wer regelmäßig auf der BGH-Homepage „stöbert“ wird feststellen, dass der Bundesgerichtshof zu bestimmten Fragen in „ständiger Rechtsprechung“ immer aufs Neue und immer mit fast gleichem Inhalt Stellung nehmen darf (oder muss).

Neben der Zulassung der Rechtsbeschwerde durch den Einzelrichter gehört zu diesen Fragen auch die abweichende Würdigung einer Zeugenaussage durch das Berufungsgericht ohne erneute Vernehmung, wie z.B. im Beschluss vom 05.05.2015 – XI ZR 326/14.

Sachverhalt

In dem zugrunde liegenden Verfahren ging es um sog. „Lehman-Zertifikate“. Die hatte der Kläger bei der beklagten Sparkasse gezeichnet und begehrte nun im Wege des Schadensersatzes wegen fehlerhafter Anlageberatung die Rückabwicklung des Erwerbs. Damit war der Kläger in erster Instanz erfolgreich gewesen, weil das Landgericht der als Zeugin vernommenen Beraterin der Sparkasse nicht glaubte, dass sie den Kläger über das allgemeine Emittentenrisiko aufgeklärt habe.

Das Berufungsgericht glaubte hingegen der Beraterin und wies die Klage ab – ohne diese aber noch einmal zu vernehmen.

Entscheidung

Dass das so einfach nicht gehen kann, liegt angesichts des fragmentarischen Charakters der diktierten Aussage eigentlich auf der Hand.

„Das Berufungsgericht hat […] den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil es zur Beantwortung der Frage, ob die Beklagte den Kläger zu 1) über das allgemeine Emittentenrisiko aufgeklärt hat, die erstinstanzlich vernommene Zeugin K. entgegen § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 398 Abs. 1 ZPO nicht erneut vernommen hat, obwohl es deren Aussage anders gewürdigt hat als das Landgericht.

a) Das Berufungsgericht ist nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des Gerichts des ersten Rechtszuges gebunden.

Bestehen Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen im erstinstanzlichen Urteil, ist in aller Regel eine erneute Beweisaufnahme geboten […]. Das Berufungsgericht ist in einem solchen Fall nach § 398 ZPO verpflichtet, in erster Instanz vernommene Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es deren protokollierte Aussagen anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will […]. Unterlässt es dies und wendet damit § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO fehlerhaft an, ist die dadurch benachteiligte Partei in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt […].

Die erneute Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht lediglich auf Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen […].

b) Nach diesen Maßgaben ist Art. 103 Abs. 1 GG hier verletzt.

aa) Das Landgericht hat aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme festgestellt, dass die Beklagte den Kläger zu 1) nicht hinreichend über das Risiko des Totalverlustes aufgeklärt hat. […]

Das Landgericht hat seine Beweiswürdigung eingehend damit begründet, dass die Zeugin K. eine Aufklärung über das allgemeine Emittentenrisiko zunächst zwar wenn auch nur - pauschal bejaht habe, gleichzeitig will sie das Thema Insolvenz aber nicht angesprochen haben und hat etwaige Risiken auch nicht in der vor dem Landgericht simulierten "Beratung" erwähnt. Aufgrund dessen hat das Landgericht der Zeugin nicht geglaubt, über das allgemeine Emittentenrisiko aufgeklärt zu haben. Vielmehr war es aufgrund der übrigen Angaben der Zeugin und der Anhörung des Klägers zu 1) vom Gegenteil überzeugt.

Das Berufungsgericht hat die Beweisaufnahme ohne nachvollziehbare Begründung abweichend vom Landgericht gewürdigt, ohne sich durch erneute Vernehmung der Zeugin und Anhörung des Klägers zu 1) einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Im Gegensatz zum Landgericht hat es auf Grundlage der Zeugenaussage eine Aufklärung über das allgemeine Emittentenrisiko bejaht.

Dies konnte es aber nur annehmen, wenn es – anders als das Landgericht – die Aussage der Zeugin auch in diesem Punkt als glaubhaft erachtete und zugleich die Angaben des Klägers zu 1) bei seiner Anhörung vor dem Landgericht für unglaubhaft hielt.

bb) Diese abweichende Würdigung der Zeugenaussage durch das Rechtsmittelgericht war nicht ausnahmsweise ohne erneute Vernehmung zulässig, weil weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe der Zeugin noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit ihrer Aussage von Bedeutung gewesen wären.

Insbesondere konnte sich das Berufungsgericht bei seiner abweichenden Würdigung nicht ausschließlich auf den protokollierten Inhalt der Beweisaufnahme stützen, weil es dem Landgericht bei der Würdigung der Glaubhaftigkeit der Aussage in dem für das Berufungsgericht maßgeblichen Punkt nicht gefolgt ist.

Für das Landgericht war entscheidend, dass die Zeugin „sicher bestätigt (habe), das Thema Insolvenz nicht angesprochen zu haben", und auch „in der simulierten 'Beratung' etwaige Risiken überhaupt nicht erwähnt" habe. Aufgrund dessen und aufgrund der vom Kläger zu 1) im Rahmen seiner Anhörung gemachten Angaben hat das Landgericht die Aussage der Zeugin insoweit als glaubhaft angesehen, während es ihr nicht geglaubt hat, über das allgemeine Emittentenrisiko aufgeklärt zu haben.

Danach war es dem Berufungsgericht verwehrt, ohne erneute Vernehmung von der Verlässlichkeit der Aussage der Zeugin auch in diesem Punkt auszugehen.“

Anmerkung

Wie immer habe ich den Text zwecks besserer Lesbarkeit um die Nachweisketten gekürzt – sie sind hier allerdings mehr als „beeindruckend“. Ich frage mich bei solchen Entscheidungen immer, ob den Vorinstanzen eine ständige Rechtsprechung nicht bekannt ist, oder ob sie ihnen egal ist, wenn sie ohne Erwähnung davon abweichen und auch die Revision nicht zulassen. Und ich weiß noch nicht einmal, was ich schlimmer fände.

tl;dr: Will das Berufungsgericht protokollierte Zeugenaussagen anders verstehen oder würdigen als das Gericht erster Instanz, ist es nach §§ 529 Abs. 1 Satz 1, 398 ZPO verpflichtet, die in erster Instanz vernommene Zeugen erneut zu vernehmen.

Anmerkung/Besprechung, BGH, Beschluss v. 05.05.2015 – XI ZR 326/14. Foto: ComQuat, BGH - Palais 2, CC BY-SA 3.0