Bei richterrechtlichen Vermutungen oder Beweiserleichterungen ist stets danach zu differenzieren, ob es sich lediglich um eine tatsächliche Vermutung bzw. einen Anscheinsbeweis handelt, oder ob die Vermutung zu einer Umkehr der Beweislast führt:
Kehrt eine Vermutung die Beweislast um, führt dies gem. § 292 ZPO dazu, dass die andere Partei das Gericht vollständig (§ 286 ZPO) vom Gegenteil überzeugen muss. Typische Bespiele für gesetzliche Vermutungen sind §§ 280 Abs. 1 Satz 2, 476 und 831 Abs. 1 Satz 2 und 1006 BGB. Ein typisches Beispiel für eine richterrechtliche Vermutung, die zu einer Beweislastumkehr führt, findet man bei fehlerhaften Produkten: Ist ein Produkt fehlerhaft, werden die Pflichtwidrigkeit und das Verschulden des Produzenten vermutet. Der Geschädigte muss daher lediglich die Fehlerhaftigkeit des Produkts, seine Rechtsgutverletzung und die Ursächlichkeit des Produktfehlers für die Rechtsgutverletzung darlegen.
Eine tatsächliche Vermutung/ein Anscheinsbeweis beruht hingegen lediglich darauf, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung einem bestimmten Erfolg in der Regel („dem ersten Anschein nach“) eine bestimmte Ursache vorausgeht. Sie kehren die Beweislast nicht um sondern erleichtern nur die Beweisführung. Deshalb muss die Partei, zu deren Lasten ein Anscheinsbeweis eingreift, nicht das vollständige Gegenteil beweisen. Es reicht vielmehr aus, das Gericht von der Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs zu überzeugen. Dann gelten (wieder) die allgemeinen Beweislastregeln.
Typische Beispiele für tatsächliche Vermutungen sind:
- Die Vermutung, dass derjenige schuldhaft handelt, der im Straßenverkehr auf den Vordermann auffährt;
- die Vermutung, dass eine Vertragsurkunde die Vereinbarung vollständig und richtig wiedergibt;
- die Vermutung, dass der Inhaber einer EC-Karte die PIN nicht sorgfältig verwahrt hat, wenn mit der Karte unberechtigt Geld abgehoben wird (str.)
Bei der Beraterhaftung von besonderer Bedeutung sind Beweiserleichterungen im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität: Hier wird allgemein vermutet, dass der Mandant beratungsgemäß gehandelt hätte (sog. Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens).
In Anlageberatungsfällen vertritt der BGH in ständiger Rechtsprechung die Ansicht, dass diese Vermutung zu einer Beweislastumkehr führt. Nach der bisherigen Rechtsprechung zur Anwalts- und Steuerberatungshaftung soll diese Vermutung nur zu einer Beweiserleichterung i.S. eines Anscheinsbeweises führen, da rechtliche Beratung sehr durch die Umstände des Einzelfalls geprägt sei.
Die Kläger waren hier der Ansicht, dass auch bei der Anwalts- und Steuerberatungshaftung von einer Beweislastumkehr auszugehen sei.