Entscheidung
Der BGH hat das Urteil des Oberlandesgerichts aufgehoben und die Sache zurückverwiesen:
„Das Urteil kann keinen Bestand haben, weil es auf der rechtsfehlerhaften Annahme beruht, der Kläger habe die titulierten Zahlungsansprüche der Beklagten durch Aufrechnung zum Erlöschen gebracht (§§ 389, 215 BGB).
Zwar kann auch gegenüber einem Anspruch, der durch rechtskräftiges Urteil festgestellt worden ist, grundsätzlich aufgerechnet werden. Die Aufrechnung unterliegt dann aber den Einschränkungen, denen sie unterläge, wenn sie im Wege der Vollstreckungsabwehrklage (§ 767 ZPO) eingewendet worden wäre (…).
Die entsprechende Anwendung von § 767 Abs. 2 ZPO in einem nachträglichen Zivilprozess folgt aus der materiellen Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung (…). Die Präklusion der Aufrechnung hat insoweit nicht nur verfahrensrechtliche Wirkung; vielmehr treten auch die materiell-rechtlichen Wirkungen der Aufrechnung nicht ein. Die zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen des Titelschuldners werden so behandelt, als sei die Aufrechnung nie erklärt worden (…).
Da die wechselseitigen Verzugszinsforderungen hier seit Mai 2007 fortlaufend zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind (§ 389 BGB), hätte der Kläger die bis dahin entstandenen Gegenforderungen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung, auf die das von der Beklagten erstrittene Urteil erging, aufrechnen können. Die hier zur Aufrechnung gestellten Verzugszinsansprüche des Klägers müssen (…) jedenfalls überwiegend vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung im Vorprozess am 17. Dezember 2010 entstanden sein. Soweit die zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen des Klägers bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung im Vorprozess entstanden sind, sind sie so zu behandeln, als sei die Aufrechnung nie erklärt worden.
Das Berufungsgericht hätte der zeitlich nachfolgenden Aufrechnung der Beklagten mit ihren titulierten Zahlungsansprüchen gegen den Freigabeanspruch (…) deshalb nicht im Hinblick auf die vorhergehende Aufrechnung des Klägers die Wirksamkeit absprechen dürfen.“
Anmerkung
Zusammenfassend für alle, die nicht mehr ganz folgen konnten: Der Kläger hat Anfang 2011 gegen den Zahlungsanspruch in Höhe von 10.000 EUR schon nicht wirksam mit dem ihm zustehenden Zinsanspruch (auf die 90.000 EUR) aufgerechnet, weil er damit präkludiert war. Das hatten die Vorinstanzen übersehen. Deshalb konnte der Beklagte grundsätzlich mit diesem ihm zustehenden Anspruch auf Zahlung von 10.000 EUR gegen den Freigabeanspruch des Klägers in Höhe von 90.000 EUR aufrechnen. Und deshalb konnten die Entscheidungen der Vorinstanzen keinen Bestand haben, die ja gerade die zweite Aufrechnung für unwirksam hielten. (Der Sachverhalt ist übrigens im Originalfall noch um Einiges komplizierter – kein Wunder, dass sich der Prozess über rund sieben Jahre zog, obwohl es wohl nur um Rechtsfragen ging.) Besonders wichtig scheint mir die Klarstellung, dass die Präklusion einer Aufrechnung (und damit auch anderer Gestaltungsrechte) nicht nur im Rahmen der Vollstreckungsgegenklage zu berücksichtigen ist, sondern auch
materiell-rechtlich wirkt und damit schon die Ausübung des Gestaltungsrechts (und die Geltendmachung in anderen Konstellationen) ausschließt. Das hindert im Fall der Aufrechnung aber nur daran, später noch mit dem Anspruch die Aufrechnung zu erklären, führt nicht dazu, dass der Anspruch später nicht mehr geltend gemacht werden könnte (BGH, Urteil vom 15.11.2012 -
IX ZR 103/11 Rn. 10). (Hoffentlich) Ohne die zusätzlich hinzukommende Problematik der Hinterlegung könnte der Sachverhalt allerdings auch das Interesse des einen oder anderen
Klausurstellers für das zweite Examen wecken. Denn die Präklusion von Gestaltungsrechten gem.
§ 767 Abs. 2 ZPO ist ein „Dauerbrenner“ im zweiten Examen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der BGH in ständiger Rechtsprechung (wie auch hier) davon ausgeht, dass die Partei mit dem ihm zustehenden Gestaltungsrecht schon ausgeschlossen ist, wenn sie dies vor dem für
§ 767 Abs. 2 ZPO maßgeblichen Zeitpunkt hätte ausüben können. Die Literatur geht hingegen (mE überzeugend) teilweise davon aus, dass sich die materielle Rechtslage erst durch die Ausübung des Gestaltungsrechtes ändert und deshalb die Möglichkeit, das Gestaltungsrecht auszuüben, nicht zur Präklusion führt (s. dazu z.B.
Spohnheimer, JA 2018, 18, 20).
tl;dr: Die Aufrechnung gegen eine durch Urteil titulierte Forderung unterliegt den Einschränkungen, denen sie unterläge, wenn sie im Wege der Vollstreckungsabwehrklage (§ 767 ZPO) eingewendet worden wäre. Ist eine zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung des Titelschuldners in entsprechender Anwendung von § 767 Abs. 2 ZPO präkludiert, wird sie so behandelt, als sei die Aufrechnung nie erklärt worden Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil vom 25.06.2019 – II ZR 170/17. Foto:
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