BGH zum Prüfungsumfang des Berufungsgerichts

Müssen Parteien in der Berufungsinstanz ihren Vortrag nochmals wiederholen und insbesondere eine unvollständige Beweisaufnahme schon in der Berufungsbegründung ausdrücklich rügen? Oder fällt der Prozessstoff der ersten Instanz ohnehin auch in der zweiten Instanz an? Dazu hat der BGH in einem Beschluss vom 28.04.2020 – VI ZR 347/19 Stellung bezogen.

Sachverhalt

Der Sachverhalt ist der sehr äußerst knapp gehaltenen Entscheidung nur teilweise zu entnehmen. Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Schadensersatz im Zusammenhang mit der Beteiligung an einer Fondsgesellschaft in Anspruch. Der Kläger behauptet dazu, er sei durch falsche Angaben im Prospekt zur Zeichnung der Beteiligung veranlasst worden; es habe sich um ein Schneeballsystem gehandelt. (Wohl) dazu hatte er sich (wohl auch) auf das Zeugnis der Zeugen Z. und G. berufen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und die beiden Zeugen nicht vernommen. Dagegen wendete sich der Kläger mit der Berufung. Dass das Landgericht die beiden Zeugen nicht vernommen hatte, rügte er jedoch nicht schon in der Berufungsbegründung, sondern erst in einem späteren Schriftsatz. Das Berufungsgericht hat die Berufung deshalb zurückgewiesen und dies damit begründet, dass ohne eine entsprechende Rüge in der Berufungsbegründung für eine Nachholung der Vernehmung gem. § 520 Abs. 3 ZPO kein Raum mehr sei, auch wenn der Kläger sich auf deren Zeugnis schon in erster Instanz berufen habe. Dagegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

Die Berufungsinstanz in Zivilsachen ist – anders als in Strafsachen – nach der gesetzlichen Konzeption nur eine „halbe“ Tatsacheninstanz. Grundsätzlich hat das Berufungsgericht nämlich die vom Gericht des ersten Rechtszugs festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, „soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten“ (oder gem. § 531 ZPO Abs. 2 ZPO neue Tatsachen zu berücksichtigen sind). Solche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen hätte es hier (wohl) begründet, dass das Landgericht zwei vom Kläger benannte Zeugen nicht vernommen hatte. Diesen Fehler hatte der Kläger allerdings nicht schon in der Berufungsbegründung (§ 520 Abs. 3 ZPO) gerügt, sondern erst später im Laufe des Berufungsverfahrens. § 520 Abs. 3 ZPO bestimmt aber, dass die Berufungsbegründung u.a. enthalten muss: „die Bezeichnung konkreter Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten“ (s. § 520 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 ZPO). Das Berufungsgericht hatte sich deshalb auf den Standpunkt gestellt, dass ohne eine entsprechende Rüge schon in der Berufungsbegründung die Zeugen nicht mehr zu vernehmen seien. Dagegen wendete sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH.

Entscheidung

Der VI. Zivilsenat hat das Urteil des OLG gem. § 544 Abs. 9 ZPO auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin aufgehoben und die Sache zurückverwiesen:

„Die Nichtzulassungsbeschwerde macht zu Recht geltend, dass der Kläger durch die Zurückweisung seines in der Berufungsinstanz – nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist – wiederholten Antrags auf Vernehmung der Zeugen Z. und G. in seinem verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt worden ist.

Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (…). Dies ist hier der Fall, weil die Auffassung des Berufungsgerichts, für die Zeugenvernehmung sei gemäß § 520 Abs. 3 ZPO kein Raum, offenkundig fehlerhaft ist (…).

a) Ist die Berufung zulässig, so gelangt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich der gesamte aus den Akten ersichtliche Prozessstoff erster Instanz ohne weiteres in die Berufungsinstanz (…). Dementsprechend wird im ersten Rechtszug nicht zurückgewiesenes Vorbringen ohne weiteres Prozessstoff der zweiten Instanz; eines erneuten Vorbringens bedarf es insoweit grundsätzlich nicht (…).

Das Berufungsgericht muss alle konkreten Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen begründen, berücksichtigen, die ihre Grundlage im erstinstanzlichen Vorbringen der Parteien haben, auch wenn das Übergehen dieses Vortrags von dem Berufungskläger nicht zum Gegenstand einer Berufungsrüge gemacht worden ist. Bemerkt das Berufungsgericht etwa anlässlich der Prüfung sonstiger Berufungsrügen, dass das Eingangsgericht eine für die Beweiswürdigung bedeutsame Tatsache oder ein erhebliches Beweisangebot übergangen hat, dann bestehen auch ohne dahingehende Rüge konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen, die das Berufungsgericht gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichten (…).

Anderes ergibt sich nicht aus den im Berufungsurteil zitierten Kommentierungen zu § 520 Abs. 3 ZPO (Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 39. Aufl., § 520 Rn. 23; Heßler in Zöller, ZPO, 32. Aufl., § 520 Rn. 41). Denn § 520 Abs. 3 Satz 2 ZPO und die Kommentierungen hierzu betreffen lediglich die inhaltlichen Anforderungen, die an die Berufungsbegründung zu stellen sind. Entspricht aber auch nur eine Rüge diesen Anforderungen, ist – bezogen auf ein und denselben Streitgegenstand – die Berufung zulässig. Die Prüfungspflicht des Berufungsgerichts erstreckt sich dann nach der genannten Rechtsprechung auch auf sonstige konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen.

b) Nach alledem ist mit der zulässigen Berufung das vom Landgericht nicht zurückgewiesene Beweisangebot des Klägers auf Vernehmung der Zeugen Z. und G. auch ohne Erwähnung in der Berufungsbegründung in die Berufungsinstanz gelangt.

Die Gehörsrüge scheitert auch nicht am Grundsatz der materiellen Subsidiarität, da der Kläger noch in der Berufungsinstanz sein erstinstanzliches Beweisangebot ausdrücklich wiederholt hat.“

Anmerkung

Dass im ersten Rechtszug nicht zurückgewiesenes Vorbringen ohne weiteres Prozessstoff der zweiten Instanz wird, gilt übrigens auch auf Seiten des Berufungsbeklagten, wie der VI. Zivilsenat mit einem weiteren aktuellen Urteil vom 19.05.2020 - VI ZR 171/19 klargestellt hat. Auch insoweit ist eine Wiederholung innerhalb der Berufungserwiderungsfrist nicht erforderlich; das Vorbringen in erster Instanz ist auch ohne Wiederholung vom Berufungsgericht daraufhin zu überprüfen, ob sich daraus Zweifel i.S.d. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ergeben. Praktisch wichtig erscheint mir hier außerdem der Hinweis auf den Grundsatz der Subsidiarität der Nichtzulassungsbeschwerde, an der immer wieder Nichtzulassungsbeschwerden scheitern (s. z.B. aus jüngster Zeit BGH, Beschluss vom 21.01.2020 VI ZR 410/17). Hat das erstinstanzliche Gericht den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (insbesondere, indem es Beweisangebote übergangen hat), MUSS dies in der Berufungsinstanz gerügt werden (wenn eben auch nicht schon in der Berufungsbegründung). Anderenfalls kann darauf keine Nichtzulassungsbeschwerde (mehr) gestützt werden. tl;dr: Ist eine Berufung zulässig, muss das Berufungsgericht den gesamten nicht zurückgewiesenen Prozessstoff der ersten Instanz darauf überprüfen, ob sich daraus Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen ergeben (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) . Das gilt unabhängig davon, ob dies Gegenstand der Berufungsbegründung war oder ob der Vortrag in zweiter Instanz wiederholt wurde. Anmerkung/Besprechung, BGH, Beschluss vom 28.04.2020 – VI ZR 347/19. Foto: © Ehssan Khazaeli