BGH: Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit einer notariellen Urkunde trotz abweichenden Entwurfs

Dass die verschiedenen Vermutungen im Recht des Urkundenbeweises einige „Tücken“ enthalten, war hier vor einiger Zeit noch Thema. In einem schon etwas länger zurückliegenden Urteil aus dem Sommer des vergangenen Jahres (Urteil vom 10.06.2016 – V ZR 295/14) hat sich der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs insoweit mit der Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit einer Vertragsurkunde befasst und dabei ziemlich bemerkenswerte - und m.E. bedenkliche - Ausführungen zur Reichweite dieser Vermutung gemacht.
Sachverhalt
Die Klägerin kaufte und erwarb vom Beklagten ein mit einer Halle bebautes Grundstück. In einem vor Vertragsschluss den Parteien übersandten Vertragsentwurf hieß es lediglich, das Grundstück sei mit einer Halle bebaut und dass das Grundstück im gegenwärtigen altersbedingten Zustand gekauft werde. Im späteren notariellen Vertrag heißt es hingegen, das Grundstück sei mit einer Halle bebaut, die eine Größe von 640 m² habe. Außerdem heißt es im Vertrag, das Grundstück werde im gegenwärtigen altersbedingten Zustand „mit den Einrichtungsgegenständen“ gekauft. Nach Abwicklung des Vertrages verlangte die Klägerin Schadensersatz vom Beklagten mit der Begründung, dass die Halle tatsächlich nur 540 m² groß sei und dass der Beklagte vor der Übergabe eine Einbauküche entfernt habe. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Kammergericht hat die Berufung gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen und dies damit begründet, die Parteien hätten sich über die Größe der Halle und die Einrichtungsgegenstände nicht geeinigt. Denn die notarielle Urkunde nehme Bezug auf den Entwurf, bei dem sämtliche darin vorgenommene Änderungen in die notarielle Urkunde übernommen worden seien. Deswegen sei davon auszugehen, dass die Parteien den Entwurf mit den darin enthaltenen handschriftlichen Änderungen als Vertragsinhalt gewollt hätten. Damit sei die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit widerlegt.

Wird über einen Vertrag eine (schriftliche oder notarielle) Urkunde aufgenommen, so wird nach allgemeiner Ansicht vermutet, dass diese den Inhalt der vertraglichen Abreden richtig und vollständig widergibt. Diese Vermutung ist dann bedeutsam, wenn sich – wie hier – eine der Parteien darauf beruft, dass eigentlich etwas anderes vereinbart sei. Aufgrund der genannten Vermutung muss dann die Partei, die solche abweichenden Abreden behauptet, diese beweisen. Hier hatte das Gericht gemeint, diese Vermutung sei schon dadurch widerlegt, dass es einen abweichenden Vertragsentwurf gebe. Und da darin von einer Größe der Halle und von einer Übereignung der Einrichtungsgegenstände nicht die Rede sei, stehe der Klägerin auch kein Schadensersatzanspruch zu.
Entscheidung
Der V. Zivilsenat hat den Beschluss des Kammergerichts wenig überraschend aufgehoben und die Sache zurückverwiesen:

„Die notarielle Kaufvertragsurkunde […] ist eine öffentliche Urkunde im Sinne von § 415 ZPO. Solche Urkunden erbringen vollen Beweis darüber, dass die Erklärung mit dem niedergelegten Inhalt so, wie beurkundet, abgegeben wurde […].

Darüber hinaus besteht für die über ein Rechtsgeschäft aufgenommenen Urkunden nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit […]; es wird also vermutet, dass das, was im beurkundeten Text steht, der Vereinbarung entspricht und nur das vereinbart ist […].

Die Partei, die sich auf außerhalb der Urkunde liegende Umstände – sei es zum Nachweis eines vom Urkundstext abweichenden übereinstimmenden Willens der Beteiligten, sei es zum Zwecke der Deutung des Inhalts des Beurkundeten aus der Sicht des Erklärungsempfängers (§§ 133, 157 BGB) – beruft, trifft die Beweislast für deren Vorliegen […]. Da der Beklagte behauptet, abweichend von dem Inhalt der Kaufvertragsurkunde seien weder eine bestimmte Hallengröße zugesagt noch Einrichtungsgegenstände verkauft worden, muss er die durch den notariellen Kaufvertrag begründete Vermutung widerlegen. Es reicht nicht, dass die Beweiswirkung erschüttert ist […].

b) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat der Beklagte die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit des notariellen Kaufvertrages nicht durch die Vorlage des Vertragsentwurfs widerlegt. Mit dieser Sichtweise verkennt das Berufungsgericht den Zweck der notariellen Beurkundung und des Beurkundungsverfahrens.

aa) Zweck der in § 311b Abs. 1 Satz 1 BGB vorgeschriebenen notariellen Beurkundung von Verträgen über Grundstücke ist es, Veräußerer und Erwerber vor übereilten Verträgen zu bewahren, sie auf die Wichtigkeit des Geschäftes hinzuweisen und ihnen die Möglichkeit rechtskundiger Belehrung und Beratung zu eröffnen […]. Mit der Durchführung eines strengen Regeln unterworfenen Beurkundungsverfahrens, insbesondere durch die dem Notar in §§ 17 ff. BeurkG auferlegten Prüfungs- und Belehrungspflichten, soll sichergestellt werden, dass der Inhalt der Urkunde dem Willen der mit der rechtlichen Tragweite vertraut gemachten Beteiligten entspricht […].

Die bei Verbraucherverträgen in § 17 Abs. 2a Satz 2 Nr. 2 BeurkG normierte Amtspflicht des Notars […], den beabsichtigten Text des Rechtsgeschäfts den Vertragsparteien schon vor der Beurkundung zur Verfügung zu stellen, dient dazu, ihnen Gelegenheit zu geben, sich vorab mit dem Gegenstand der Beurkundung auseinanderzusetzen, Unklarheiten und Änderungswünsche vorher zu klären und sich auf die Beurkundungsverhandlung vorzubereiten […]. Der Entwurf dokumentiert hingegen nicht den abschließenden Parteiwillen. Die Aufgabe des Notars, diesen zu ermitteln und den Erklärungen eine Fassung zu geben, die den Absichten und Interessen der Beteiligten gerecht wird […], bringt es gerade mit sich, dass es während der Beurkundungsverhandlung – etwa aufgrund einer Anregung durch den Notar oder aufgrund entsprechender Parteiwünsche – noch zu Änderungen in dem vorab zur Verfügung gestellten Entwurfstext kommen kann […]. Erst mit der in der Beurkundungsverhandlung gefertigten Niederschrift (§§ 8, 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BeurkG) erhalten die Erklärungen der Beteiligten ihre endgültige Form […]. Die notarielle Urkunde dokumentiert, zu welchem Ergebnis die Beurkundungsverhandlung vor dem Notar geführt hat. Die Erklärungen der Beteiligten gelten mit der Beweiskraft des § 415 ZPO als abgegeben […].

bb) Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass allein durch die Vorlage des Vertragsentwurfes die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit notarieller Urkunden widerlegt werden könne, führte zu dem Ergebnis, dass nicht der notariellen Urkunde, sondern letztlich dem vorläufigen Entwurfstext, der gerade nicht Bestandteil der Beurkundungsverhandlung ist […] und daher auch nicht die tatsächlich abgegebenen Erklärungen der Parteien dokumentiert, die maßgebliche Bedeutung zukommt.

Dies ist mit dem Sinn und Zweck des strengen Anforderungen unterliegenden Beurkundungsverfahrens und der darin begründeten Beweiskraft notarieller Urkunden (§ 415 ZPO) nicht vereinbar.“

Anmerkung
1. Bemerkenswert ist, welche Rechtsfolgen der V. Zivilsenat der Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit entnimmt. Nach ganz überwiegender Ansicht handelt es sich dabei nämlich lediglich um einen Anscheinsbeweis bzw. eine tatsächliche Vermutung, so dass nicht der Beweis des Gegenteils (§ 292 ZPO) erforderlich ist, sondern auch der Gegenbeweis, d.h. die Entkräftung der Vermutung statthaft ist (so beispielsweise der VIII. Zivilsenat, Beschluss vom 19.12.2000, VIII ZR 120/00, Huber in: Musielak/Voit, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 292 Rn. 1). Eine solche Entkräftung kommt bei der Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit von Urkunden beispielsweise dadurch in Betracht, dass (andere) nicht beurkundete Nebenabreden unstreitig oder bewiesen sind (so noch BGH, Urteil vom 14.10.1988 – V ZR 73/87; ebenso MünchKommBGB/Kanzleiter, 7. Aufl. 2016, § 311b Rn. 70; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 26 Rn. 71). Nach der in der Entscheidung geäußerten Ansicht des V. Zivilsenats soll der Gegenbeweis aber gerade nicht ausreichend sein. Der Vermutung käme dann die Wirkung einer gesetzlichen Vermutung i.S.d. § 292 ZPO zu, ohne dass es sich um eine „gesetzliche“ Vermutung handelte. Das hat der V. Zivilsenats zwar mit Urteil vom 19.06.1998 – V ZR 133/97 schon einmal – ohne Begründung (!) – so konstatiert, wird allein dadurch aber nicht überzeugender. Auch eine möglicherweise beabsichtigte Differenzierung (tatsächliche Vermutung bei Privaturkunden, gesetzliche Vermutung bei notariellen Urkunden) findet m.E. allein in den Formvorschriften keine hinreichende gesetzliche Grundlage. 2. Die Entscheidung zeigt außerdem deutlich, dass die Einführung des § 522 Abs. 3 ZPO dringend notwendig war und wie bedenklich die erneute Verlängerung der Wertgrenze in § 26 Nr. 8 EGZPO ist. Denn unterhalb eines Streitwertes von 20.000 EUR wäre die m.E. unhaltbare Entscheidung des Kammergerichts unanfechtbar gewesen. tl;dr: Die (tatsächliche) Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit eines notariellen Vertrages wird nicht durch die Vorlage eines inhaltlich abweichenden Vertragsentwurfs widerlegt. Anmerkung/Besprechung, BGH, Beschluss vom 10.06.2016 – V ZR 295/14. Foto: Samuel Zeller | unsplash.com | CC0