BGH: Geändertes Vorbringen muss auch bei Widersprüchlichkeit berücksichtigt werden

Dass manche Partei ein – scheinbar oder tatsächlich – eher taktisches Verhältnis zur prozessualen Wahrheitspflicht in § 138 Abs. 1 ZPO hat, gehört sicherlich zu den eher unangenehmen Seiten richterlicher Arbeit. Wie das Gericht auf solchen - wechselnden oder widersprüchlichen - Sachvortrag (nicht) reagieren kann, hat der BGH nunmehr mit Beschluss vom 24.07.2018 VI ZR 599/16 näher ausgeführt.

Sachverhalt

In einer Kapitalanlagesache beriefen sich die Kläger auf die Fehlerhaftigkeit von Jahresabschlüssen und Lageberichten, die einem Emissionsprospekt zugrundelagen. Dazu hatten sie zunächst behauptet, sie hätten die streitgegenständlichen Genussscheine von der (am Rechtsstreit nicht beteiligten) Vermittlerin (A. AG) nach einer Beratung auf Grundlage dieser Unterlagen erworben, wobei aber wohl unstreitig war, dass der Prospekt in diesem Gespräch nicht vorlag. Wohl nachdem das Landgericht die Kläger darauf hingewiesen hatte, dass dann konkreter Sachvortrag dazu erforderlich sei, dass die fehlerhaften Prospektpassagen im Gespräch erläutert worden seien, entspann sich folgender im Protokoll festgehaltener Dialog:
„Klägervertreter erklärt, dass in diesem Fall die Entscheidung über die Anlage des Vermögens durch den Vermögensverwalter auf eigene Faust getroffen wurde, nachdem vorher die Risikostrukturen und die Ziele abgesteckt wurden. Beklagtenvertreter weist darauf hin, dass dieses Vorbringen im Widerspruch zu dem übrigen Vortrag des Klägers bzw. Klägervertreters stehe. Klägervertreter erklärt, dass es sich bei dem vormaligen Vortrag wohl um einen Irrtum handele, den er durch den letzten Schriftsatz probiert habe zu klären. Klägervertreter erklärt weiter, dass die Kollegin wohl, da die meisten Verfahren gleichförmig gelaufen seien, einen Block in die Klageschrift und in die anderen Schriftsätze hineingenommen habe, ohne dies weiter zu überprüfen. Wie vormals ausgeführt, war es aber nicht, sondern es war tatsächlich so, wie nunmehr geschildert, dass die Vermögensverwaltung letztlich zur Entscheidung berufen gewesen wäre und diese auch gefällt hätte.“
Das Landgericht hat daraufhin die Klage abgewiesen; das Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen und dies u.a. wie folgt begründet: Soweit die Kläger behauptet hätten, die Genussscheine aufgrund einer Beratung durch die A. AG erworben zu haben, fehle es an substantiiertem Vortrag dazu, dass die Prospektpassagen, in denen es um die fehlerhaften Jahresabschlüsse und Lageberichte gehe, Gegenstand des Beratungsgesprächs gewesen seien. Soweit die Kläger behauptet hätten, der Erwerb der Genussscheine sei ohne Rücksprache mit den Klägern erfolgt, bleibe dies unberücksichtigt, weil die Kläger auch vorgetragen hätten, der Erwerb sei aufgrund einer vorherigen Beratung durch die Vermittlerin erfolgt. Außerdem seien sie mit diesem Vortrag gem. § 531 Abs. 2 ZPO ausgeschlossen.

Die Kläger hatten hier im Hinblick auf die Beratungssituation zwei unterschiedliche Versionen vorgetragen: Dass sie die Genussscheine aufgrund einer Beratung der A. AG gekauft hatten und dass die A. AG diese Genussscheine ohne Rücksprache mit ihnen gekauft hatte, was sich ersichtlich ausschließt. Dabei hatten die Kläger aber klargestellt, dass sie ihre ursprüngliche Behauptung aufgegeben hatten und diese durch die korrigierte Behauptung, die Genussscheine seien ohne Rücksprache gekauft worden, ersetzen wollten. Trotzdem hatte das Berufungsgericht gemeint, es müsse der letztgenannten Behauptung nicht nachgehen, weil der Sachvortrag der Kläger widersprüchlich sei. Dabei spielte erkennbar die Erwägung eine Rolle, dass die Änderung des Sachvortrags und das Agieren des Klägervertreters im Verhandlungstermin den Eindruck erweckten, sie seien allein taktisch motiviert.

Entscheidung

Der BGH hat den Beschluss gem. § 544 Abs. 7 ZPO wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aufgehoben und die Sache zurückverwiesen:

„a) Mit Recht rügt die Nichtzulassungsbeschwerde zunächst als Gehörsverstoß, dass das Berufungsgericht den Vortrag der Kläger, die Genussscheine seien von Mitarbeitern der A. AG ohne Rücksprache mit den Klägern für die Kläger erworben worden, deshalb für unerheblich hält, weil die Kläger „in erster Instanz auch vorgetragen“ hätten, der Erwerb der Genussscheine sei aufgrund einer vorherigen Beratung durch die A. AG erfolgt. (…)

Im Prozessrecht findet sich keine Grundlage, Parteivortrag nur deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil er im Widerspruch zu vorangegangenem, ausdrücklich aufgegebenem Vortrag steht. Im Gegenteil ist eine Partei nicht daran gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen; eine Vortragsänderung kann nur bei der Beweiswürdigung Bedeutung erlangen (…)

b) Weiter hat das Berufungsgericht die Kläger in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs auch dadurch verletzt, dass es den dargestellten Vortrag im angefochtenen Beschluss nach § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO zurückgewiesen hat. Diese Zurückweisung findet in § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO schon deshalb keine Grundlage, weil die Vortragsänderung (…) bereits in erster Instanz erfolgte.“

Anmerkung

Das klingt zunächst wie eine Einladung zu einem äußerst taktischen Umgang mit der Wahrheit, vor allem, weil die Begründung („die Kollegin ist schuld“) ja tatsächlich den Eindruck einer eher schlechten Ausrede erweckt. Trotzdem ist das Ergebnis des BGH überzeugend, weil es einer Partei schlicht nicht verwehrt sein kann, ihren Sachvortrag zu ändern, wenn sich dieser als falsch herausstellt. Es wäre völlig unverständlich und gerade mit § 138 Abs. 1 ZPO nicht zu vereinbaren, einer Partei nicht die Möglichkeit zu geben, im Laufe des Rechtsstreis Irrtümer zu korrigieren und sie stattdessen zu zwingen, an einem als falsch erkannten Vortrag festzuhalten. Das Problem dürfte sich praktisch regelmäßig schon verringern, wenn das Gericht die Parteien stets persönlich anhört, soweit deren persönliche Wahrnehmungen Gegenstand des Rechtsstreits sind. Hätte das Gericht hier eine ausführliche Schilderung der Kläger „im Kasten (ergo: Diktiergerät) gehabt“, wonach sie die Genusscheine nach einer Beratung durch die A. AG erworben hätten, wäre es für sie deutlich schwieriger gewesen, eine spätere Änderung des dahingehenden Vortrags zu begründen. Außerdem weist der BGH – zu Recht – den gut geebneten Weg zu § 286 ZPO: Denn selbstverständlich darf das Gericht eine Änderung des Vortrags im Rahmen seiner Feststellungen berücksichtigten – und wird dabei zu Recht um so höhere Anforderungen an seine Überzeugungsbildung stellen, je „taktischer“ ein solches Prozessverhalten und je unplausibler die Begründung für die Änderung wirkt. tl;dr: Eine Partei ist nicht daran gehindert, ihren Sachvortrag im Laufe des Rechtsstreits zu ändern. Der geänderte Sachvortrag darf deshalb nicht unberücksichtigt bleiben; die Änderung und die dafür angegebene Begründung können jedoch im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden. Anmerkung/Besprechung, BGH, Beschluss vom 24.07.2018 – VI ZR 599/16. Wenn Sie diesen Artikel verlinken wollen, können Sie dafür auch folgenden Kurzlink verwenden: www.zpoblog.de/?p=6726 Foto: Andreas Praefcke, Karlsruhe BGH Eingangsbereich, CC BY 3.0