EuGH zur Verfahrensaussetzung trotz ausschließlicher internationaler Zuständigkeit

Mit Urteil vom 03.04.2014 - C 438/12 hat sich der EuGH mit der Frage befasst, ob das ausschließlich zuständige Gericht eines Mitgliedsstaats sein Verfahren aussetzen darf, wenn wegen derselben Sache in einem anderen Mitgliedsstaat bereits ein Verfahren anhängig ist.

Dem Verfahren lag ein Streit zweier Schwestern zugrunde, die Eigentümerinnen eines Grundstücks in München waren. Zugunsten der Klägerin war 1971 hinsichtlich des Miteigentumsanteils der Beklagten ein Vorkaufsrecht in das Grundbuch eingetragen worden. 2009 veräußerte die Beklagte diesen Miteigentumsanteil an eine deutsche GbR. Der Kaufvertrag enthielt eine Klausel, nach der die Beklagte unter bestimmten Umständen berechtigt sein sollte, vom Kaufvertrag zurückzutreten.

Nachdem der Notar die Klägerin über den Kaufvertrag zwischen der Beklagten und der GbR informiert hatte, übte die Klägerin ihr Vorkaufsrecht aus. Beide Damen gingen dann zum Notar „erkannten“ die wirksame Ausübung des Vorkaufsrechts „an“ und einigten sich über den Eigentumsübergang des Miteigentumsanteils auf die Klägerin. Sie wiesen den Notar aber an, die Bewilligungserklärung für die Eigentumsumschreibung erst dann an das Grundbuchamt herauszugeben, wenn die Beklagte schriftlich auf ihr Rücktrittsrecht verzichtet habe. Das passierte aber nicht.

Die GbR war wohl nicht besonders glücklich darüber, dass die Klägerin ihr Vorkaufsrecht ausgeübt hatte. Sie erhob vor einem italienischen Gericht Klage auf Feststellung, dass die Ausübung des Vorkaufsrechts unwirksam sei und der Vertrag zwischen ihr und der Beklagten weiterhin Bestand habe. Kurz darauf verklagte die Klägerin die Beklagte vor dem Landgericht München auf Bewilligung der Eintragung in das Grundbuch. Unter Berufung auf Art. 27 und 28 EuGVVO setzte das Landgericht das Verfahren im Hinblick auf das italienische Verfahren aus. Gegen diese Aussetzung wendete sich die Klägerin.

Ein Vorkaufsrecht schützt den Begünstigten vor der Veräußerung eines Gegenstands an einen Dritten. Zu diesem Zweck räumt es ihm für den Fall der Veräußerung das Recht ein, anstelle des Käufers in den Vertrag einzutreten (vgl. §§ 463, 464 BGB). Das schuldrechtliche Vorkaufsrecht war hier zusätzlich durch ein dingliches Vorkaufsrecht gem. § 1094 BGB abgesichert worden. Wenn die Klägerin ihr Vorkaufsrecht wirksam ausgeübt hatte, war damit zwischen ihr und der Beklagten ein Kaufvertrag zustande gekommen, aus dem ihr gem. § 433 Abs. 1 BGB ein Anspruch auf Übertragung des Eigentums zustand. So viel zur schuldrechlichen Seite.

Zum (dinglichen) Eigentumsübergang war gem. § 873 Abs. 1 BGB neben der - gemeinsam vor dem Notar erklärten - Auflassung (§ 925 BGB) auch die Eintragung in das Grundbuch erforderlich. Eine Eintragung setzt gem. § 19 GBO die Bewilligung dieser Eintragung durch den Voreigentümer voraus. Diese Bewilligung hatte die Beklagte hier aber nicht erteilt. Deshalb hatte die Klägerin die Beklagte auf Erteilung dieser Bewilligung verklagt.

Die internationale Zuständigkeit richtete sich hier nach der VO 44/2001, sog. EuGVO oder EuGVVO. Für die Klage auf Bewilligung der Eintragung waren die deutschen Gerichte gem. § 22 Ziff. 1 EuGVVO ausschließlich zuständig. Es sprach aber viel dafür, dass auch die zuvor in Italien erhobene Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit des Kaufvertrages unter Art. 22 Ziff. 1 EuGVVO fiel und deshalb auch dafür das Landgericht München ausschließlich zuständig gewesen wäre.

Sollte dies so sein, ergab sich aus der Systematik der EuGVVO ein Folgeproblem: Die Entscheidung des italienischen Gerichts wäre gem. Art. 35 Abs. 1 EuGVVO von deutschen Gerichten nicht anerkannt worden, da sie unter Verstoß gegen die ausschließliche Zuständigkeit gem. Art. 22 Ziff. 1 EuGVVO zustande gekommen wäre. Fraglich war daher, ob das LG München als richtigerweise zuständiges Gericht sein Verfahren gem. Art. 27 oder 28 EuGVVO aussetzen durfte, wenn das Verfahren vor den italienischen Gerichten in Deutschland ohnehin keinerlei Auswirkungen hätte haben können (sofern die Klage dort nicht ohnehin mangels internationaler Zuständigkeit abgeweisen worden wäre).

Das OLG München ersuchte den EuGH gem. Art. 267 AEUV mit der Beantwortung (u.a.) der Fragen,

  • ob die Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Ausübung des Vorkaufsrechts unter Art. 22 Ziff. 1 EuGVVO fällt und
  • ob das später angerufene Gericht das Verfahren gem. Art. 27 EuGVVO aussetzen darf, wenn die Entscheidung des zunächst angerufenen Gerichts gem. Art. 35 Abs. 1 EuGVVO in anderen Mitgliedsstaaten nicht anerkannt werden würde.

Der EuGH bejaht zunächst relativ knapp (und m.E.) überzeugend die Frage, ob auch die Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Ausübung des Vorkaufsrechts unter Art. 22 Ziff. 1 EuGVVO fällt.

Die zweite Frage beantwortet der EuGH dahingehend, dass das später angerufene Gericht vor einer Aussetzung prüfen müsse, ob die Entscheidung des zunächst angerufenen Gerichts wegen Art. 35 Abs. 1 EuGVVO nicht anerkannt würde. Bejaht es dies, darf es das Verfahren nicht gem. Art. 27 EuGVVO aussetzen.

„In der vorliegenden Rechtssache ist […] eine ausschließliche Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts nach Art. 22 Nr. 1 der VO 44/2001, der zu Abschnitt 6 ihres Kapitels II gehört, gegeben.

Art. 35 Absatz I der Verordnung sieht vor, dass eine in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat nicht anerkannt wird, wenn die Vorschriften von Abschnitt 6 des Kapitels II der Verordnung über die ausschließliche Zuständigkeit verletzt worden sind.

Daraus folgt, dass eine Entscheidung, die das zuerst angerufene Gericht in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens unter Verletzung von Art. 22 Nr. 1 der Verordnung erlässt, im Mitgliedstaat des später angerufenen Gerichts nicht anerkannt werden kann.

Unter diesen Umständen ist das später angerufene Gericht nicht mehr berechtigt, das Verfahren auszusetzen oder sich für unzuständig zu erklären, sondern es muss in der Sache über die bei ihm erhobene Klage entscheiden, um die Einhaltung dieser Regel ausschließlicher Zuständigkeit zu gewährleisten.

Jede andere Auslegung widerspräche den der Systematik der VO 44/2001 zu Grunde liegenden Zielen, etwa der abgestimmten Rechtspflege unter Vermeidung negativer Zuständigkeitskonflikte oder dem freien Verkehr der Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, insbesondere ihrer Anerkennung.

Es entspräche nämlich, wie der Generalanwalt in Rn. 41 seiner Schlussanträge […] ebenfalls im Wesentlichen ausgeführt hat, nicht dem Gebot einer geordneten Rechtspflege, wenn das später angerufene, nach Art. 22 Nr. 1 der VO 44/2001 ausschließlich zuständige Gericht gem. Art.  27 der Verordnung das Verfahren aussetzen würde, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststünde, und sich dann gegebenenfalls zu dessen Gunsten für unzuständig erklären würde.

Darüber hinaus würde im konkreten Kontext einer ausschließlichen Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts nach Art. 22 Nr. 1 dieser Verordnung das mit ihrem Art. 27 verfolgte Ziel beeinträchtigt, das darin besteht, zu verhindern, dass eine Entscheidung nicht anerkannt wird, weil sie mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist.“

Die Entscheidung halte ich für überzeugend. Den Hintergrund für das „Grundstücksgeschiebe“ verstehe ich aber (noch) nicht. Mag mir ein Leser „auf die Sprünge“ helfen? Hat das steuerrechtliche Hintergründe, wie so oft, wenn Leute auf den ersten Blick sinnlose Dinge tun?

Anmerkung/Besprechung, EuGH, Urteil vom 03.04.2014 – C 438/12.

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