OLG Celle zur „Flucht in die Säumnis“ und zum absoluten Verzögerungsbegriff
Entscheidung
Das OLG hat das Urteil des Landgerichts aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.„Für die Rechtsauffassung des Einzelrichters, das Vorbringen der Beklagten in der Einspruchsschrift als verspätet gemäß § 296 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen zu dürfen, sprechen folgende gerichtliche Entscheidungen: Das OLG Zweibrücken (Urteil vom 28. Juni 2001 – 4 U 69/00 …) hat entschieden, der Vorsitzende sei gemäß § 341a ZPO i. V. m. § 216 Abs. 2 ZPO verpflichtet, unverzüglich nach Eingang eines zulässigen Einspruchs Termin zur Verhandlung zu bestimmen. Damit wäre es nicht vereinbar, wenn er die auf den Einspruch anzuberaumende Verhandlung soweit aufschieben müsste, dass in diesem Termin alle nach dem verspäteten Vorbringen in Betracht kommenden Beweise erhoben werden könnten. Andernfalls würde nämlich die Regelung des § 296 ZPO durch das Versäumnisverfahren unterlaufen. Es möge danach durchaus noch zumutbar sein, dass der Vorsitzende seine Terminplanung so einrichtet, dass auch eine größere Anzahl von Zeugen noch hinzugeladen und vernommen werden könnte (…). Ein Hinausschieben des Termins auf unbestimmte Zeit, um zu ermöglichen, dass noch vorher ein Sachverständigengutachten eingeholt werden könne, komme jedoch grundsätzlich nicht in Betracht (…). Auch der Bundesgerichtshof (Urteil vom 23. Oktober 1980 – VII ZR 307/79) hat diese Auffassung vertreten: Bei der Bestimmung des Termins zur mündlichen Verhandlung über Einspruch und Hauptsache sei der Vorsitzende nicht verpflichtet, den Termin so weit hinauszuschieben, dass in ihm auch verspätetes Vorbringen noch in vollem Umfang ohne Verzögerung in der Erledigung des Rechtsstreits berücksichtigt werden kann (…). Das OLG Köln (Beschluss vom 21. März 2005 – 22 W 17/05) verweist ebenfalls darauf, dass auf den Einspruch gegen ein Versäumnisurteil der neue Verhandlungstermin unverzüglich und so schnell wie möglich zu bestimmen sei (§§ 216 Abs. 2, 272 Abs. 3 ZPO) (…).
Die Vorgehensweise des Einzelrichters stößt allerdings auf verfassungsrechtliche Bedenken. Der Prozessvortrag einer Partei kann nicht als verspätet zurückgewiesen werden, wenn auch bei fristgerechtem Vortrag der Rechtsstreit nicht früher beendet werden kann als bei Berücksichtigung des verspäteten Vortrags (…). Diese Erwägungen beruhen auf verfassungsrechtlicher Rechtsprechung zu der Frage, ob der absolute Verzögerungsbegriff mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG vereinbar ist. Danach ist dies grundsätzlich zu bejahen; verspätetes Vorbringen darf jedoch nicht ausgeschlossen werden, wenn offenkundig ist, dass dieselbe Verzögerung auch bei rechtzeitigem Vortrag eingetreten wäre (BVerfG, Beschluss vom 5. Mai 1987 – 1 BvR 903/85 …). Denn Sinn der Verspätungsregeln ist es nicht, eine noch schnellere Erledigung des Rechtsstreits herbeizuführen (sog. Überbeschleunigung), als dies bei Einhaltung der Fristen und ordnungsgemäßem prozessfördernden Verhalten der Parteien der Fall wäre (…). Nur der Zweck, pflichtwidrige Verfahrensverzögerungen abzuwehren, rechtfertigt verfassungsrechtlich die Einschränkung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (…). Es ist auch zu prüfen, ob die Verspätungsfolgen im Rahmen des dem Gericht durch § 273 ZPO eingeräumten pflichtgemäßen Ermessens nach Maßgabe des Zumutbaren abgewendet werden können (…).
Diese Grundsätze hat der Einzelrichter nicht hinreichend beachtet. Zu prüfen wäre gewesen, ob es vorliegend eine Verzögerung von ca. zwei Monaten rechtfertigt, der Beklagten ihre Einwendungen gegen den Anspruch der Klägerin als verspätet abzuschneiden. Nach Auffassung des Senats ist das aus den nachstehenden Gründen zu verneinen:
Wenn die Beklagte fristgerecht bis zum 4. Juli 2019 das Vorbringen aus der Einspruchsschrift vorgetragen hätte, hätte der Einzelrichter aller Voraussicht nach gleichfalls Termin im September 2019 anberaumt. Es erscheint vorliegend nämlich sachgerecht, zunächst zu erörtern, ob die Parteien vergleichsbereit sind. (…)
Für den Fall, dass sich die Parteien nicht vergleichen wollten, wäre auf den Termin am 13. September 2019 ein Beweisbeschluss zur Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens erlassen worden. Bei Zulassung des verspäteten Vorbringens der Beklagten wäre dies auf den Einspruchstermin am 15. November 2019 gleichfalls geschehen. Damit wäre ein Beweisbeschluss bei Zulassung des verspäteten Vorbringens der Beklagten mit einer Verzögerung von ca. zwei Monaten ergangen.
Nach dem absoluten Verzögerungsbegriff des Bundesgerichtshofs (…) kommt es ausschließlich darauf an, ob der Prozess bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger dauern würde als bei dessen Zurückweisung. Das wäre danach zu bejahen.
Allerdings ist auch zu bedenken, dass es bei der Einholung von Sachverständigengutachten viele Unwägbarkeiten zum zeitlichen Ablauf gibt: Verzögerungen bei der Vorschusszahlung, Unvorhersehbarkeiten bei der Gutachtenerstellung, Fristverlängerungsgesuche der Parteien zur Stellungnahme, Terminvorlauf bei Gericht, etwaige Terminverlegungsanträge. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint dem Senat die Annahme einer Verzögerung des Rechtsstreits bei Zulassung des verspäteten Vorbringens nicht sicher vorhersehbar.
In Anbetracht des Umstandes, dass die Zurückweisung seitens des Einzelrichters für die Beklagte einen erheblichen Einschnitt in deren Rechte (Art. 103 GG) bedeutet, und mit zwei Monaten bezogen auf die zu erwartende Gesamtdauer des Verfahrens bei Zulassung des verspäteten Vorbringens keine erhebliche Verzögerung (…) eingetreten wäre, hätte der Einzelrichter nach Auffassung des Senats sein Ermessen dahin ausüben müssen, das Sachverständigengutachten einzuholen. Dagegen hat der Einzelrichter eine Überbeschleunigung des Verfahrens vorgenommen, die zu einer nicht hinnehmbaren Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beklagten geführt hat. Die Nachlässigkeit der Beklagten hätte vielmehr angemessen mit einer Verzögerungsgebühr gemäß § 38 GKG geahndet werden können (…).“