Fundstück(e) April 2015 - „Erledigungsdruck“ und richterliche Entscheidungsfindung

Anstelle des „normalen" Monatsrückblicks möchte ich diesmal nur auf zwei Artikel im De legibus Blog (Teil 1 und Teil 2) aufmerksam machen. Der Direktor des Sozialgerichts Fulda, Dr. Carsten Schütz, berichtet dort über die Hintergründe eines dienstgerichtlichen Verfahrens gegen einen Kollegen am OLG Karlsruhe (DGH Baden-Württemberg, DGH 1/13). Letzterer wehrt sich gegen einen Vorhalt und eine Ermahnung seiner OLG-Präsidentin (§ 26 Abs. 2 DRiG), in denen diese bemängelte, er unterschreite das durchschnittliche Erledigungspensum vergleichbarer Richterinnen und Richter „seit Jahren ganz erheblich”.

Beide Artikel sind nicht gerade kurz (es steht ja ein langes Wochenende vor der Tür) aber absolut lesenswert, ganz besonders der erste Teil. Schütz beschreibt darin aus der Sicht eines „Insiders" die Arbeitsbedingungen in der Justiz zwischen richterlicher Unabhängigkeit einerseits und hoheitlicher Justizverwaltung andererseits sowie die bedenklich geringe Legitimation und Aussagekraft sog. Pebb§y-Zahlen. Bemerkenswert klar arbeitet Schütz auch heraus, welche Ursachen geringe „Erledigungszahlen“ haben können und wie der „Erledigungsdruck" mehr oder weniger subtil Einfluss auf die richterliche Entscheidungsfindung nehmen kann:

„Abstrakt lassen sich bei einem Richter für niedrige Erledigungen fünf verschiedene Ursachen denken:

1. Er arbeitet weniger als die von ihm geforderte, sich an der beamtenrechtlichen Arbeitspflicht orientierenden Zeit.

2. Er ist krankheitsbedingt (körperlich/psychisch) in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt.

3. Er ist juristisch-fachlich überfordert.

4. Er ist zwar juristisch-fachlich kompetent genug für den “Durchschnitt”, aber “umständlich” im Sinne von entscheidungsschwach (im negativen Sinne “zu gründlich”), ihm fehlt das durchschnittliche “Judiz” sowie die für das “durchschnittliche” Arbeits- und Erledigungspensum nötige Auffassungsgabe.

5. Er nimmt sich mehr Zeit pro Fall als der “durchschnittliche” Kollege, indem er genauer als dieser liest, was vorgetragen wird und sich intensiver mit Rechts- und auch Tatsachenfragen auseinandersetzt, was mehr primäre Arbeitszeit pro Fall verschlingt und sekundär zu einer Verfahrensverlängerung durch richterliche Hinweise (§ 139 ZPO) mit Stellungnahmefristen oder Beweiserhebungen führt (im positiven Sinne “gründlich”).

Zu dieser Kategorie gehört auch, Urteile ausführlich und fundiert zu begründen, was per se mehr Zeit beansprucht, die dann für die Bearbeitung anderer Verfahren nicht zur Verfügung steht. Dies bedeutet zugleich eine Absage an folgende drei Handlungsweisen, mit denen die statistische Erledigungszahl gern gesteigert wird:

a. Man legt unter mehreren möglichen stets derjenigen Rechtsauffassung seiner Entscheidung zugrunde, die eine Beweisaufnahme vermeidet.

b. Für Verfahren mit Beibringungsgrundsatz ergibt sich zudem die beliebte Option, potentiell verfahrensverzögernden Vortrag für unsubstantiiert zu erklären und ihm damit die Entscheidungserheblichkeit zu nehmen. Für Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz (Verwaltungsgerichte, Sozialgerichte) lässt sich diese Methode, wenn auch nichts ganz so effektiv, dadurch anwenden, dass man Grenzen der Amtsermittlungspflicht behauptet und als erreicht deklariert.

c. Alternativ und noch radikaler bleibt der Weg, Vortrag in den Tatbestand aufzunehmen, dann aber in den Entscheidungsgründen nicht zu beachten. Dies ist vor der restriktiven verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Gehörsverletzung unproblematisch; denn die Erwähnung im Tatbestand widerlegt einen etwaigen Vorwurf, Vortrag nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Handelt es sich um entscheidungsrelevante Vortrag, ergibt sich “nur” eine einfach-rechtliche Unrichtigkeit, die man vor einem Verfassungsgericht nicht rügen kann (von dem seltenen Sonderfall der Willkürentscheidung abgesehen).

d. Man übt Druck auf Beteiligte aus mit dem Ziel, einen Vergleich zu schließen oder eine Klage zurückzunehmen."

Es geht daher in dem Verfahren und bei den zugrunde liegenden Problemen nicht um „Befindlichkeiten" arbeitsscheuer Kollegen, sondern um zwei viel grundlegendere Fragen: Inwieweit und mit welchen Folgen nimmt die Politik durch „Erledigungvorgaben" (implizit) Einfluss auf richterliche Entscheidungen? Und: Wird juristischer Gründlichkeit auch vor dem Hintergrund angeblich leerer öffentlicher Kassen noch hinreichender Wert beigemessen? Dass keine der großen überregionalen Tageszeitungen das (Berufungs-)Verfahren aufgegriffen hat und ich nicht einmal eine Stellungnahme des Deutschen Richterbunds finden kann, erstaunt mich daher schon.

Zum Thema „juristische Gründlichkeit" ist mir übrigens vor einigen Tagen die DRiZ 10/2014 in die Hände gefallen. Der Vizepräsident des Landesarbeitsgerichts Nürnberg, Joachim Vetter, beschreibt darin die Vorteile staatlicher Justiz - in Abgrenzung zu Schiedsgerichten - u.a. mit folgendem Argument (DRiZ 2014, 333):

„Da wäre – natürlich – die Gründlichkeit. Nicht Wahrscheinlichkeit, nicht bloße Schätzung oder Einschätzung führt zum Erfolg oder zum Schieds(Zwangs)vergleich. Die Tatsachen werden ermittelt, die Rechtslage festgestellt.

Das alles soll nun keinen Wert mehr haben?"

Der Dienstgerichtshof hat die Klage übrigens abgewiesen.

Der Beitrag wurde am 07.05.2015 berichtigt. Herr Vetter ist Vizepräsident des LAG Nürnberg, nicht des LAG Düsseldorf. Foto: wikimedia.org | gemeinfrei