Der gesetzliche Richter und die Zulassung der Rechtsbeschwerde

Gefühlt mindestens ein Mal monatlich findet man auf der BGH-Homepage einen Beschluss, in dem einer Rechtsbeschwerde allein deshalb stattgegeben wird, weil die Rechtsbeschwerde vom Einzelrichter zugelassen wurde. Diesen Fehler wollte die Kammer offenbar nicht machen, deren Entscheidung dem Beschluss des BGH vom 30.04.2020 – I ZB 61/19 zugrunde liegt - der BGH hat den Beschluss aber trotzdem wegen eines Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter aufgehoben.

Sachverhalt

Die Gläubiger betreiben die Räumungsvollstreckung aus einem Versäumnisurteil, mit dem die Schuldnerin und der Schuldner (als Gesamtschuldner) zur Räumung eines Reihenhauses verurteilt worden waren, das sie von den Gläubigern gemietet hatten. Der Schuldner war nach Rechtskraft des Versäumnisurteils verstorben. Zwischen den Parteien war in der Folge streitig, ob für die Fortsetzung der Räumungsvollstreckung eine Umschreibung des Titels (auch) gegen die Erben des Schuldners erforderlich war. Die Gerichtsvollzieherin hatte dies für notwendig gehalten und die weitere Vollstreckung abgelehnt. Die dagegen von den Gläubigern eingelegte Erinnerung war erfolglos geblieben. Die von den Gläubigern gegen die Zurückweisung ihrer Erinnerung eingelegte sofortige Beschwerde hat die Einzelrichterin des Beschwerdegerichts mit Beschluss vom 6. Dezember 2018 zurückgewiesen. Die Gläubiger haben mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 13. Dezember 2018 die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs mit der Begründung gerügt, der Beschluss sei vor Ablauf der von der Einzelrichterin mit Schreiben vom 3. Dezember 2018 eingeräumten Frist von sieben Tagen und ohne Berücksichtigung der Argumente ergangen, die ihre Verfahrensbevollmächtigten innerhalb dieser Frist vorgebracht hätten. In dem Schreiben haben die Gläubiger außerdem gebeten, ihnen die Möglichkeit einzuräumen, den Beschluss mit der Rechtsbeschwerde überprüfen lassen zu können. Die vollbesetzte Beschwerdekammer hat die Sache deshalb mit Beschluss vom 16. Januar 2019 übernommen und mit weiterem Beschluss vom 11. März 2019 die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der Einzelrichterin vom 6. Dezember 2018 nachträglich zugelassen. Dabei ist die Kammer davon ausgegangen, dass zwar die Gehörsrüge nicht statthaft sei. Der Schriftsatz vom 13.12.2018 sei deshalb als Gegenvorstellung auszulegen. Mit der Rechtsbeschwerde, deren Verwerfung, hilfsweise Zurückweisung die Schuldnerin beantragt, verfolgen die Gläubiger ihr in den Vorinstanzen erfolgloses Begehren weiter, die Gerichtsvollzieherin anzuweisen, den Räumungs- und Vollstreckungsauftrag gegen die Schuldnerin ohne eine vorherige Umschreibung des Titels (auch) auf die Erben durchzuführen.

Die Rechtsbeschwerde zum BGH ist gem. § 574 Abs. 1 ZPO nur zulässig, wenn das Gesetz dies vorsieht (sehr selten) oder wenn das Beschwerdegericht sie zulässt. Um Letzteres ging es hier. Das Berufungsgericht – Landgericht – hatte hier zunächst allein durch die Einzelrichterin über die sofortige Beschwerde der Gläubiger entschieden (§ 568 Satz 1 ZPO) und die Rechtsbeschwerde – was der absolute Regelfall ist – nicht zugelassen. Dabei hatte die Einzelrichterin allerdings – vermutlich irrtümlich – die selbst gesetzte Stellungnahmefrist übersehen und schon vor Ablauf dieser Frist entschieden. Auf die dagegen eingelegte Gehörsrüge der Gläubiger (§ 321a ZPO) hatte die Kammer die Sache übernommen und die Rechtsbeschwerde zugelassen. Diese hatten die Gläubiger eingelegt. Und der BGH musste nun entscheiden, ob diese Zulassung überhaupt wirksam war, und ob – bejahendenfalls – die Rechtsbeschwerde auch begründet war.

Entscheidung

Der Senat führt zunächst ausführlich aus, dass die nachträgliche Zulassung der Rechtsbeschwerde auf die Gehörsrüge hin zulässig gewesen sei. Zwar sei die Kammer zu Unrecht nicht von einer Gehörsrüge, sondern von einer Gegenvorstellung ausgegangen. Deshalb sei auch der Tenor unrichtig, weil er sich nicht – wie es geboten gewesen wäre – dazu verhalte, ob die Entscheidung der Einzelrichterin auf die Gehörsrüge hin aufrecht zu erhalten oder aufzuheben war (vgl. § 321a Abs. 5 Satz 1, 2 und 5 in Verbindung mit § 343 ZPO). Die fehlerhafte Einordnung des Schriftsatzes vom 13. Dezember 2018 als Gegenvorstellung mache die Zulassung der Rechtsbeschwerde jedoch nicht wirkungslos, weil die Kammer angenommen habe, dass die Einzelrichterin den Anspruch der Gläubiger auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt habe. Damit habe die Kammer der Sache nach rechtsfehlerfrei die Voraussetzungen für eine Fortführung des Verfahrens nach § 321a Abs. 1 Nr. 2 ZPO festgestellt. Die Rechtsbeschwerde habe hier allerdings schon deshalb Erfolg, weil das Beschwerdegericht entgegen § 568 Satz 1 ZPO über die Anhörungsrüge nicht durch die Einzelrichterin, sondern durch die Kammer entschieden hat.

„1. Nach § 568 Satz 1 ZPO entscheidet das Beschwerdegericht durch eines seiner Mitglieder als Einzelrichter, wenn die angefochtene Entscheidung von einem Einzelrichter oder einem Rechtspfleger erlassen worden ist. Vorliegend hat über die Erinnerung der Gläubiger der Amtsrichter entschieden. In einem solchen Fall ist die Kammer gemäß § 568 Satz 2 ZPO nur dann zur Entscheidung über die Beschwerde berufen, wenn der Einzelrichter durch eine gesonderte Entscheidung das Verfahren dem Beschwerdegericht zur Entscheidung in der im Gerichtsverfassungsgesetz vorgeschriebenen Besetzung übertragen hat. Dies setzt einen entsprechenden Beschluss des Einzelrichters voraus (…).

2. An einem solchen Beschluss fehlt es im Streitfall. Die Kammer hat mit Beschluss vom 16. Januar 2019 selbst entschieden, dass sie die Sache wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 568 Satz 2 Nr. 2 ZPO übernimmt. Dies war verfahrensfehlerhaft.

Die Beschwerdekammer ist außer in Fällen, in denen die Zuständigkeit des Einzelrichters zweifelhaft ist (§ 348 Abs. 2 ZPO analog …), nicht befugt, selbst über die Übertragung eines in die originäre Zuständigkeit des Einzelrichters fallenden Beschwerdeverfahrens zu entscheiden. Insoweit ist unerheblich, ob der Einzelrichter an einem solchen Kammerbeschluss mitwirkt, weil es nach § 568 Satz 2 ZPO alleinige Entscheidungskompetenz des Einzelrichters ist, ob die Voraussetzungen für eine Übertragung auf die Kammer vorliegen (…). Die im Streitfall erfolgte Anfrage der Einzelrichterin bei der Vorsitzenden der Kammer, ob die Übernahme des Verfahrens durch diese angezeigt sei, konnte den insoweit gebotenen Übertragungsbeschluss nicht ersetzen.

3. Die Bestimmung des § 568 Satz 3 ZPO, wonach auf eine erfolgte oder unterlassene Übertragung ein Rechtsmittel nicht gestützt werden kann, steht der Relevanz des der Kammer hier unterlaufenen Verfahrensfehlers nicht entgegen. Es besteht vorliegend kein Streit darüber, ob die Einzelrichterin das Verfahren zu Recht nach § 568 Satz 2 ZPO der Kammer übertragen hat. Vielmehr hat die Einzelrichterin insoweit keine Entscheidung getroffen. Dieser Fall wird von § 568 Satz 3 ZPO nicht erfasst (…).

4. Da das Beschwerdegericht zu Unrecht entgegen § 568 Satz 1 ZPO nicht durch die Einzelrichterin, sondern durch die Beschwerdekammer entschieden hat, war es nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 576 Abs. 3, § 547 Nr. 1 ZPO). Angesichts dieses absoluten Rechtsbeschwerdegrunds ist es unerheblich, ob sich der angefochtene Beschluss aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 577 Abs. 3 ZPO). Vielmehr sind gemäß § 577 Abs. 4 ZPO der fehlerhaft ergangene Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an den Einzelrichter zurückzuverweisen (…).“

Anmerkung

Und das ist völlig richtig, aber insgesamt sehr unglücklich gelaufen: Das Landgericht hatte hier gerade nicht den „klassischen Fehler“ gemacht und die Rechtsbeschwerde durch den Einzelrichter zugelassen (was immer zur Aufhebung führt, weil dann schon ein Verstoß gegen den den gesetzlichen Richter vorliegt, weil bei grundsätzlicher Bedeutung die Sache vor der Entscheidung gem. § 568 Satz 2 ZPO der Kammer zu übertragen gewesen wäre). Sondern es hatte - richtig - durch die Kammer entschieden. Bei der Übertragung der Sache auf die Kammer – im Zusammenhang mit der Gehörsrüge – hatte das Gericht aber nicht das für die Übertragung im Gesetz vorgesehene Verfahren beachtet, weil die Kammer die Sache nicht „an sich ziehen“ kann, sondern der Einzelrichter die Sache vorlegen muss. Und deswegen hatte hier doch wieder nicht der gesetzliche Richter entschieden, weil mangels wirksamer Übertragung auf die Kammer die Einzelrichterin hätte entscheiden müssen (aber ja - s.o. - nicht dürfen). Die – sehr ausführliche – Segelanweisung zur Frage, wann in der Räumungsvollstreckung eine Rechtsnachfolgeklausel gegen die Erben erforderlich ist, ist übrigens auch sehr lesenswert und wohl auch examensrelevant, sprengt aber den Rahmen dieser Besprechung. tl;dr: Im Verfahren der sofortigen Beschwerde gemäß §§ 567 ff. ZPO ist der vollbesetzte Spruchkörper außer in Fällen, in denen die Zuständigkeit des Einzelrichters zweifelhaft ist, nicht befugt, selbst über die Übertragung eines in die originäre Zuständigkeit des Einzelrichters fallenden Beschwerdeverfahrens zu entscheiden. Anmerkung/Besprechung, BGH,  Beschluss vom 30.04..2020 – I ZB 61/19. Foto: © Ehssan Khazaeli