Ablehnungen von Videoverhandlungen: Eine Analyse von 3.000 „Dieselverfahren“

Seit dem Spätsommer 2020 hat eine auf Massenverfahren spezialisierte Kanzlei in über 3.000 „Dieselverfahren“ Anträge nach § 128a ZPO gestellt. Die Durchführung von Videoverhandlungen wurde ganz überwiegend in erster Instanz bei einem Landgericht und in zweiter Instanz bei einem Oberlandesgericht in allen 16 Bundesländern beantragt. Besonders aufschlussreich sind die Gründe, die von Gerichten im Fall einer Ablehnung angeführt wurden. Sie zeigen, dass weiterer Handlungsbedarf besteht, um Videoverhandlungen langfristig zu etablieren.

Die Ablehnungsgründe im Einzelnen

Die Ablehnungsgründe der ersten Instanz im Einzelnen

Von – für diese Veröffentlichung durch die Verfasser ausgewerteten – 3.000 Anträgen auf Durchführung einer Videoverhandlung wurden 1.464 abschlägig beschieden (48,8 %), darunter 1.311 in der ersten Instanz. In 508 Fällen hat das Gericht auf eine fehlende technische Ausstattung verwiesen (38,75 % der Ablehnungen in der ersten Instanz). Demnach fehlten Hardware (insbesondere Kameras, Mikrofone, Lautsprecher), Software bzw. Lizenzen und/oder eine Breitband-Internetverbindung im Gerichtssaal. In einigen Fällen fehlte laut Begründung auch das hinreichend technisch versierte Gerichtspersonal. In 80 Fällen (6,1 %) wurde mitgeteilt, dass der Gerichtssaal groß genug sei und die geltenden Hygienevorschriften eingehalten werden könnten. In 91 Fällen (6,94 %) hat das Gericht verfügt, dass zunächst der Verlauf der Pandemie abgewartet werden solle (und den Termin verlegt). In 423 Fällen bzw. 32,27 % der Ablehnungsbegründungen hieß es (unabhängig von der Corona-Pandemie?): Die Vorgehensweise sei nicht angebracht.

Die Ablehnungsgründe der zweiten Instanz im Einzelnen

In der zweiten Instanz verneinten die Gerichte in 153 Fällen eine mündliche Verhandlung im Wege der Videokonferenz. Als Grund wurde in 32 Fällen genannt, dass die Vorgehensweise nicht angebracht sei (20,9 % der Ablehnungsbegründungen). In nur 29 Fällen fehlte die technische Ausstattung (19 %). Im Vergleich zur ersten Instanz fehlten seltener die technischen Voraussetzungen. In 14 Fällen wurde mitgeteilt, dass der Verlauf der Pandemie abgewartet werden solle, in elf Fällen, dass der Saal groß genug sei.

Nur die technische Ausstattung wird besser

Seit Beginn der Erhebung lässt sich feststellen, dass die Ablehnung immer seltener auf die fehlende technische Ausstattung der Gerichte gestützt wird. Hier deckt sich die statistische Erhebung mit den eigenen Erfahrungen in NRW und den Berichten aus anderen Bundesländern. Die Justiz hat in die technische Ausrüstung insoweit investiert, als dass Videoverhandlungen in vielen Bezirken grundsätzlich möglich sind. Erstaunlich ist, dass weiterhin zahlreiche Anträge abgelehnt werden, weil sich die Verfahren (angeblich) nicht für eine Videoverhandlung eigneten. Dabei ist es in den betrachteten und ähnlich gelagerten Verfahren nahezu immer zu einer Endentscheidung ohne Beweisaufnahme gekommen. Zugleich standen fast ausschließlich rechtliche Fragestellungen im Vordergrund. Auch Vergleichsschlüsse in öffentlicher Sitzung sind in diesen Verfahren eine absolute Ausnahme. Verfahren dieser Art werden oft gerade als Paradebeispiele genannt, für die eine Videoverhandlung angezeigt ist.

Hauptursache: Aufwand vs. Nutzen für die Richterschaft?

Es liegt auf der Hand, dass für die Richterschaft die Durchführung von Videoverhandlungen mit erheblichem Aufwand verbunden ist. Je nach Plattform muss das Gericht einen Konferenzraum buchen, den Beschluss nach § 128a ZPO abfassen, Zugangsdaten übermitteln und ggf. einen Testlauf anbieten. Zudem ist bei der hauseigenen IT-Abteilung abzufragen, ob Videokonferenzanlagen in der erforderlichen Stückzahl zur Verfügung stehen. Denn wenn z.B. sechs Anwälte im Saal sind und nur einer zugeschaltet wird, müssen mehrere Kameras (nachträglich) aufgebaut werden, damit alle im Saal Anwesenden von den „Abwesenden“ zeitgleich gesehen und gehört werden können. Das Gericht wird daher vorab auch abklären müssen, wer im Saal sein möchte. Selbst dann bleibt es allen Beteiligten unbenommen, dennoch vor Ort zu erscheinen.

Reformbedarf

Was kann die Anwaltschaft tun?

Die Anwaltschaft kann es den Richtern zumindest in gewisser Weise erleichtern, virtuelle Verhandlungen mit weniger Aufwand zu organisieren. Hierzu sollte sie entsprechende Anträge idealerweise schon in der Klageschrift oder -erwiderung stellen. Dann kann das Gericht mit ausreichend Vorlauf alles Erforderliche organisieren und ggf. mehrere Videoverhandlungen auf einen hierfür vorgesehenen Sitzungstag bündeln. Gerade in Massenverfahren, aber auch in Streitigkeiten mit großen Versicherungen oder Behörden, könnte ein Anreiz für Gerichte zur Videoverhandlung geschaffen werden, indem frühzeitig darauf hingewiesen wird, dass per Video der zuständige Sachbearbeiter zugeschaltet wird. Naturgemäß erleichtert dies nicht nur die Erörterung der Sache, sondern fördert auch Vergleichsmöglichkeiten. Zugleich sollten sich Anwälte frühzeitig mit den technischen Modalitäten der Videoverhandlung und der von dem jeweiligen Gericht eingesetzten Software auseinandersetzen. Hierzu kann es sich auch anbieten, auf Terminvertreter zurückzugreifen, die auf dezentrale Videoverhandlungen spezialisiert sind.

Was können die Länder/Justizverwaltungen tun?

Im letzten Jahr sind für den Großteil der Gerichte Videokonferenzanlagen und Softwarelizenzen beschafft worden, um die Durchführung von Videoverhandlungen möglich zu machen. Der beschriebene Aufwand für die Richterschaft kann weiter reduziert werden, indem alle Sitzungssäle standardmäßig mit dem erforderlichen Equipment ausgestattet und die technische Unterstützung bei Problemen sichergestellt werden. Erfreulicherweise sind dahingehende Überlegungen z.B. in NRW bereits fortgeschritten. Zusätzlich hat etwa das Oberlandesgericht Köln die Möglichkeit für Rechtsanwälte geschaffen, losgelöst vom jeweiligen Verfahren an einem wöchentlich stattfindenden zentralen Testtermin teilzunehmen, um technische Probleme seitens der Anwaltschaft bei der eigentlichen Verhandlung weiter zu reduzieren.

Was kann der Gesetzgeber tun?

Mit guten Gründen werden in den letzten Monaten die Stimmen lauter, die eine Ausweitung der prozessualen Möglichkeiten hin zu einer volldigitalen Verhandlung (mit „Zuschauerraum“ im Gerichtsgebäude) fordern. Aus Richtersicht scheint dieser Weg gegenüber anderen Vorschlägen, insbesondere „Soll“-Vorschriften und „weichen“ Verpflichtungen, sehr vielversprechend. Denn die Gerichte würden intrinsisch motiviert, volldigitale Verhandlungen – in geeigneten Fällen – durchzuführen. Ungeachtet der Vorteile einer ortsunabhängigen Verhandlung (insbesondere mit der eAkte) können Richter „ihre“ Sitzungssäle in der Regel nur an bestimmten Tagen nutzen. Wenn auch das Gericht Verhandlungen flexibel – vom Dienstzimmer oder aus dem Homeoffice – an anderen Wochentagen ansetzen kann, können Terminkollisionen und lange Vorläufe verhindert werden. Hieran haben die Gerichte selbst ein hohes Interesse. Aus Anwaltssicht ist dieser Vorstoß in sehr vielen Fällen ebenfalls zu begrüßen, da auch die Rechtsanwälte von dieser örtlichen Flexibilisierung profitieren können. Wird sich ein derart weitgehender Vorschlag, aus politischen oder praktischen Gründen, nicht durchsetzen, sollte der Gesetzgeber – wie inzwischen ebenfalls mehrfach vorgeschlagen – zumindest regeln, dass Gerichte die Beteiligten zur Teilnahme an der Sitzung im Wege der Bild- und Tonübertragung verpflichten können.
Zu den Autoren: Dr. Christian Schlicht ist Richter am Landgericht Köln und dort als Stellvertretender IT-Dezernent u.a. für die Koordination von Videoverhandlungen und die Einführung der elektronischen Akte mitverantwortlich.  Rechtanwalt Sebastian Hautli ist Geschäftsführer und Mitgründer der Litigation Forum Rechtsanwalts GmbH, eines Berliner Rechts-Start-ups, das sich auf die Terminsvertretung bei Gerichtsverhandlungen spezialisiert hat und neben Präsenzterminen viele Videoverhandlungen durchführt.