Entscheidung
Der VI. Zivilsenat hat das Urteil – wenig überraschend – gem. § 544 Abs. 9 ZPO auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen:
„Jedenfalls die Nichtberücksichtigung seines nach Schluss der mündlichen Verhandlung gehaltenen Vortrags verletzt den Kläger unter den Umständen des Streitfalls in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs. (...)
bb) Der Bundesgerichtshof entnimmt Art. 103 Abs. 1 GG in ständiger Rechtsprechung, dass eine in erster Instanz siegreiche Partei darauf vertrauen darf, vom Berufungsgericht einen Hinweis zu erhalten, wenn dieses in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und auf Grund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält; der Hinweis muss dabei grundsätzlich so rechtzeitig erteilt werden, dass der Berufungsbeklagte noch vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung reagieren kann (…).
Erteilt das Berufungsgericht den Hinweis entgegen § 139 Abs. 4 ZPO erst in der mündlichen Verhandlung, so muss es der betroffenen Partei genügend Gelegenheit zur Reaktion hierauf geben. Ist offensichtlich, das sich die Partei in der mündlichen Verhandlung nicht abschließend erklären kann, so muss das Gericht, wenn es nicht ins schriftliche Verfahren übergeht, die mündliche Verhandlung auch ohne einen Antrag auf Schriftsatznachlass vertagen, um Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (…).
Gegen diese Pflichten hat das Berufungsgericht verstoßen. Es hat dem in erster Instanz in Bezug auf den Haushaltsführungsschaden siegreichen Kläger den Hinweis, es bedürfe einer Darstellung, welche Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin er als Pflege und Betreuung und - in Abgrenzung hierzu - für die Haushaltsführung geltend mache, erst in der mündlichen Berufungsverhandlung erteilt und diese geschlossen, obwohl dem Kläger eine sofortige Erklärung in der Sache angesichts des damit verbundenen Rechercheaufwandes ersichtlich nicht möglich war.
Vor dem Hintergrund des darin liegenden Verfahrensfehlers war das Berufungsgericht im Rahmen des § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO verpflichtet, sich mit dem nicht nachgelassenen Schriftsatz, in dem der Kläger auf den Hinweis reagiert hat, inhaltlich zu befassen und dessen Entscheidungserheblichkeit zu prüfen. Eine solche Prüfung war auch nicht deshalb entbehrlich, weil es der Kläger versäumt hat, im Termin einen Schriftsatznachlass zu beantragen (…).
Die abweichende Verfahrensweise des Berufungsgerichts findet im Prozessrecht keine Stütze mehr.
cc) Auch greift der Einwand der Beschwerdeerwiderung nicht, der verspätet erteilte Hinweis des Berufungsgerichts sei von vornherein nicht erforderlich gewesen, weil die Beklagte bereits in erster Instanz den Einwand erhoben habe, die Lebensgefährtin des Klägers könne nicht zur gleichen Zeit den Haushalt führen und die Pflege des Klägers übernehmen, weshalb die entsprechende Auffassung des Berufungsgerichts für den Kläger nicht überraschend gewesen sein könne. Denn der Einwand der Beklagten musste den Kläger nicht zur Annahme veranlassen, das Berufungsgericht halte ihn für zutreffend, den Vortrag des Klägers zum Haushaltsführungsschaden – anders als das Landgericht – also nicht für ausreichend, weshalb er jedenfalls vorsorglich ergänzend vorzutragen habe (…).“
Anmerkung
Und das ist in der Sache – wie schon bemerkt – so gar keine Überraschung (s. z.B. auch aktuell und lesenswert ebenso das OLG Celle, Beschluss vom 30.03.2020 - 11 U 167/19 und z.B. die hier besprochene Entscheidung des OLG Düsseldorf).
Wenig praktikabel ist und bleibt aber die Ansicht des BGH, die mündliche Verhandlung müsse in einem solchen Fall zwingend vertagt werden. Warum man eine anwaltlich vertretene Partei derart „zu ihrem Glück zwingen muss“, erschließt sich mir nicht. Dabei kann man schon die Frage stellen, ob eine anwaltlich vertretene Partei tatsächlich auf die Möglichkeit hingewiesen werden muss, Schriftsatznachlass zu beantragen. Jedenfalls aber dürfte sie ausreichend geschützt sein, wenn sie im Termin auf die Möglichkeit hingewiesen wird, insoweit Schriftsatznachlass zu beantragen (s. zum Schriftsatznachlass ausführlich auch diesen Gastbeitrag). Wird trotzdem ein solcher Antrag nicht gestellt (und dann späterer Vortrag gem. § 296a ZPO nicht berücksichtigt), wäre ich gespannt, ob der BGH an seinen sehr strengen Maßstäben festhielte.
Interessant ist die Entscheidung außerdem noch, soweit der Senat die – erstaunlich weit verbreitete – Ansicht nicht gelten lässt, der Kläger sei durch die Beklagte schon ausreichend „hingewiesen“ worden. Wann dies der Fall sein kann, hatte ich hier schon mal näher ausgeführt.
tl;dr: Erteilt das Berufungsgericht einen Hinweis entgegen § 139 Abs. 4 ZPO erst in der mündlichen Verhandlung, so muss es der betroffenen Partei genügend Gelegenheit zur Reaktion hierauf geben.