KG: Falsch bezeichnetes Urteil und richtiger Rechtsbehelf

Bild des KammergerichtsUnrichtig bezeichnete Urteile stellen die unterlegene Partei stets vor die Frage, mit welchem bzw. welchen Rechtsmitteln sie die Entscheidung zweckmäßigerweise bekämpfen sollte.

Mit Beschluss vom 07.08.2015 – 8 U 244/14 hatte sich das Kammergericht mit einem Fall zu befassen, in dem gegen ein fälschlich als „Versäumnisurteil“ bezeichnetes Endurteil sowohl Einspruch als auch Berufung eingelegt worden waren.

Sachverhalt

Der Kläger begehrte die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm bestimmte näher bezeichnete aber nicht bezifferte Schäden zu ersetzen. Dass er im Wege der Feststellungsklage vorging, begründete der Kläger damit, dass die Schadensentwicklung noch nicht abgeschlossen sei.

Nachdem der Kläger – bzw. dessen Prozessbevollmächtigter – im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen war, wies das Landgericht die Klage ab. Das Urteil vom 11.11.2014 war zwar als Versäumnisurteil bezeichnet, aus den Entscheidungsgründen ergab sich aber, dass das Gericht die Klage mangels Feststellungsinteresse als unzulässig abgewiesen hatte. Gegen dieses Urteil legte der Kläger fristgerecht sowohl Einspruch als auch Berufung ein.

Noch bevor das Kammergericht über die Berufung entscheiden konnte, verhandelte das Landgericht über den Einspruch des Klägers und hielt mit weiterem Urteil vom 24.03.2015 das „Versäumnisurteil“ aufrecht.

Erscheint die klagende Partei im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht oder stellt sie keinen Antrag (§ 333 ZPO), so ist die Klage gem. § 330 ZPO auf Antrag durch Versäumnisurteil abzuweisen. Gegen dieses Versäumnisurteil steht der klagenden Partei dann der Einspruch gem. §§ 338 ff. ZPO zu.

Hier hatte das Landgericht die Klage nach Säumnis des Klägers abgewiesen und seine Entscheidung auch als „Versäumnisurteil“ bezeichnet. Die Entscheidung war aber begründet, was bei einem Versäumnisurteil gem. §§ 313b Abs. 1 Satz 1 ZPO schon nicht nötig gewesen wäre (und deshalb in der Praxis kaum passiert). Und in den Entscheidungsgründen war ausgeführt, dass die Klage unzulässig sei, weil der Kläger kein Feststellungsinteresse habe; er könne und müsse auf Zahlung klagen (Vorrang der Leistungsklage vor der Feststellungsklage). Deshalb handelte es sich um ein sog. „unechtes Versäumnisurteil", das trotz der missverständlichen Bezeichnung ein „normales“ (End-)Urteil i.S.d. § 300 ZPO ist.

Der Kläger wollte sich gegen dies Urteil wehren, war aber nun in einer misslichen Situation: Denn gegen ein Versäumnisurteil hätte er Einspruch einlegen müssen (§ 338 ZPO) gegen ein Endurteil aber Berufung (§ 511 Abs. 1 ZPO). Und der Einspruch wäre gem. § 340 Abs. 1 beim Ausgangsgericht einzulegen gewesen (hier also beim Landgericht), die Berufung gem. § 519 Abs. 1 ZPO beim Berufungsgericht (hier also beim Oberlandesgericht).

Weil die unterlegene Partei durch den Fehler des Gericht aber nicht schlechter stehen darf, hilft in dieser Situation der Meistbegünstigungsgrundsatz: Weichen Form des Urteils (Versäumnisurteil) und Inhalt des Urteils (Endurteil) voneinander ab, hat die unterlegene Partei die Wahl zwischen dem nach der Form des Urteils statthaften Rechtsbehelf (hier: Einspruch) und dem nach dem Inhalt der Entscheidung statthaften Rechtsbehelf (hier: Berufung). Hier hatte der Kläger allerdings gleich beide Rechtsbehelfe eingelegt, Einspruch und Berufung. Und über den Einspruch war bereits entschieden worden.

(Das „Kammergericht“ (KG) ist übrigens das Oberlandesgericht des Landes Berlin und heißt aus historischen Gründen so.)

Entscheidung
Unproblematisch war hier, dass das Gericht trotz Nichterscheinens ein Sachurteil und kein Versäumnisurteil erlassen hatte. Denn die Sachurteilsvoraussetzungen hat das Gericht von Amts wegen zu prüfen; liegen diese nicht vor, kann nach herrschender Meinung auch bei Säumnis des Klägers ein Prozessurteil ergehen (s nur BGH, Urteil v. 13.03.1986 - I ZR 27/84). Fraglich war nur das Schicksal der Berufung, nachdem über den Einspruch entschieden worden war. Das Kammergericht hat die Berufung als unzulässig verworfen:

„Zwar handelte es sich bei der Entscheidung vom 11.11.2014 trotz ihrer Bezeichnung als „Versäumnisurteil” ausweislich der Entscheidungsgründe um ein streitiges und damit der Berufung unterliegendes Urteil; maßgebend ist der Inhalt der Entscheidung […].

Verlautbart das Gericht seine Entscheidung in einer falschen Form, steht den Parteien sowohl derjenige Rechtsbehelf zu, der nach der Art der tatsächlich ergangenen Entscheidung statthaft ist, als auch dasjenige Rechtsmittel, das bei einer in der richtigen Form ergangenen Entscheidung zulässig wäre […].

Allerdings soll dieser Meistbegünstigungsgrundsatz die beschwerte Partei lediglich vor Nachteilen schützen, die auf der unrichtigen Entscheidungsform beruhen, ihr aber keine prozessualen Vorteile verschaffen […] und keine Vermehrung der Anfechtungsmöglichkeiten gegen eine der Form nach unkorrekte Entscheidung bewirken […].

Es mag dahin stehen, ob die Berufung von vornherein unzulässig war, weil der Kläger zuvor bereits Einspruch eingelegt hatte […]. Jedenfalls wäre es eine unzulässige Erweiterung des gesetzlichen Rechtsmittelzuges, wenn beide Rechtsmittel unbeschränkt nebeneinander durchgeführt werden könnten. Dabei kann vorliegend offen bleiben, ob eine Partei, die beide möglichen Rechtsmittel eingelegt hat, sich schon bis zur Entscheidung über eines der Rechtsmittel für eines von beiden entscheiden muss […].

Jedenfalls kann der Kläger […] das „Versäumnisurteil” vom 11.11.2014 nicht mehr im Wege der Berufung anfechten, nachdem das Landgericht durch das streitige Urteil vom 24.3.2015 über den Einspruch des Klägers entschieden und die Entscheidung vom 11.11.2014 aufrechterhalten hat. Diese stellt sich jetzt nicht mehr als Endurteil im Sinne von § 511 Abs. 1, § 300 Abs. 1 ZPO dar, d. h. als Urteil, welches die Hauptsache ganz oder teilweise für die Instanz endgültig entscheidet […]. Die endgültige Entscheidung erster Instanz ist vielmehr durch das Urteil vom 24.3.2015 getroffen worden. Nur dieses Urteil ist noch im Wege der Berufung anfechtbar bzw. anfechtbar gewesen.“

Anmerkung

Die Entscheidung ist m.E. richtig, auch wenn der Kläger damit auf den Kosten der Berufung „sitzen bleibt". Denn es gab aufgrund des allgemein anerkannten Meistbegünstigungsgrundsatzes keinen nachvollziehbaren Grund, gleich beide Rechtsmittel einzulegen, auch nicht aus anwaltlicher Vorsicht. Taktisch klug wäre es wohl gewesen, nur Berufung einzulegen. Denn dass sich das Landgericht durch den Einspruch würde „umstimmen“ lassen, war ohnehin eher unwahrscheinlich. [Update vom 10.09.2015: In den Kommentaren bin ich darauf hingewiesen worden, dass hinsichtlich der Berufung mit dem Urteil vom 24.03.2015 Erledigung eingetreten war. Es dürfte sich um geradezu prototypischen Fall der sog. prozessualen Überholung handeln.]

Wichtig ist übrigens, dass der Meistbegünstigungsgrundsatz nur gilt, wenn Form und Inhalt der Entscheidung tatsächlich voneinander abweichen: Erlässt das Gericht eine nach Inhalt und Form falsche Entscheidung, ist nur der gegen diese Entscheidung statthafte Rechtsbehelf gegeben, nicht hingegen der Rechtsbehelf, der gegen die „richtige“ Entscheidung statthaft wäre.

tl;dr: Ist ein Endurteil zu Unrecht als Versäumnisurteil bezeichnet und ist über einen dagegen eingelegten Einspruch entschieden, wird eine ebenfalls eingelegte Berufung gegen das „Versäumnisurteil“ unzulässig.

Anmerkung/Besprechung, KG, Beschluss v. 07.08.2015 - 8 U 244/14.

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