LG Krefeld: Feststellungsklage gegen VW im sog. „Abgasskandal“ zulässig (und begründet)

Der sog. „VW-Abgasskandal“ befeuert nicht nur die rechtspolitische Debatte um die Einführung von Muster-/Sammelklagen, sondern beschäftigt auch in Gestalt „normaler“ Klagen die Zivilgerichte. Das Landgericht Krefeld hat nun in einer aufsehenerregenden Entscheidung vom 19.07.2017 – 7 O 147/16 die Zulässigkeit und Begründetheit einer Schadensfeststellungsklage gegen VW bejaht.
Sachverhalt
Der Kläger hatte 2012 von der Beklagten zu 1 einen Audi Q5 gekauft und erworben und nahm nun die Verkäuferin (als Beklagte zu 1) auf Rückabwicklung des Kaufvertrages, die Volkswagen AG (als Beklagte zu 2) auf Feststellung in Anspruch, dass diese ihr zum Ersatz sämtlicher Schäden verpflichtet sei, die aus der Manipulation des Fahrzeugs resultieren.

Gegen die Beklagte zu 1 als Verkäuferin des PKW hatte der Kläger hier auf Rückabwicklung des Kaufvertrages geklagte (d.h. auf Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückgabe und Rückübereignung des PKW). Außerdem hatte er – was man in Anwaltsklausuren nie vergessen sollte! – beantragt, festzustellen, dass sich die Beklagte zu 1 mit der Rücknahme des PKW im Annahmeverzug befand. Diese Feststellung ist wegen §§ 756, 765 ZPO bedeutsam, weil sie die Vollstreckung des Zahlungsanspruchs vereinfacht. Gegen die Beklagte zu 2 hatte der Kläger nicht auf Zahlung eines bestimmten Schadensersatzbetrages geklagt, sondern gem. § 256 Abs. 1 ZPO auf Feststellung, dass die Beklagte zu 2 ihm zum Ersatz entstandener und noch entstehender Schäden verpflichtet sei. Auf diese Weise würde der Kläger ein den Anspruch dem Grunde nach feststellendes Urteil erhalten, dass es ihm über einen Zeitraum von 30 Jahren (§ 197 Abs. 1 Ziff. 3 BGB) ermöglicht, weitere Schadenspositionen geltend zu machen. Eine Feststellungsklage ist aber nur zulässig, wenn entweder die beklagte Partei ein Feststellungsurteil voraussichtlich respektieren und eine Vollstreckung deshalb nicht erforderlich sein wird (so beispielsweise bei Banken, Versicherungen oder Insolvenzverwaltern) oder wenn der Schaden noch nicht bezifferbar ist.
Entscheidung
1. Das Landgericht Krefeld hat die Klage gegen die Beklagte zu 1 wegen Verjährung abgewiesen, der Klage gegen die Beklagte zu 2 jedoch stattgegeben. Die Kammer führt zunächst aus, die Klage gegen die Beklagte zu 1 sei unbegründet, weil der Rücktritt des Klägers gem. § 218 Abs. 1 BGB unwirksam sei. Die kaufrechtliche Gewährleistungsfrist sei abgelaufen, die Beklagte zu 1 habe die Einrede der Verjährung auch erhoben. Dass die Beklagte zu 1 als selbständige Händlerin von den Abgasmanipulationen gewusst hätte, sei nicht vorgetragen und nicht ersichtlich. Die Manipulationen der Beklagten zu 2 seien ihr auch nicht zuzurechnen. 2. a) Soweit der Kläger die Beklagte zu 2 in Anspruch nehme, sei die Klage zulässig:

„Die Klage ist als Feststellungsklage gemäß § 256 Abs. 1 ZPO zulässig.

Besteht der Schaden im Rahmen eines Anspruchs aus §§ 823 Abs. 2, 826 BGB in der Herbeiführung eines Vertrages, den der Geschädigte ohne die schädigende Handlung nicht geschlossen hätte, so kann dieser den Ersatz des negativen Interesses verlangen. Er ist jedoch nicht gezwungen, dies stets im Wege der Rückabwicklung durchzusetzen. Es steht ihm frei, den Vertrag bestehen zu lassen und den Ersatz der durch die unerlaubte Handlung entstandenen Nachteile zu verlangen […].

Der Vorrang der Leistungsklage besteht bei dieser Sachlage nicht, weil der Kläger darlegen kann, dass weitere Schäden durch Steuernachteile durch die Verwendung des Fahrzeugs drohen. Ferner ist der Anspruch aus dem Kaufvertrag verjährt, so dass der Kläger weiter ein Interesse an der Rückabwicklung des Fahrzeugkaufs hat.

Auch hat die Klägerseite unwidersprochen vorgetragen, dass gegen das Kraftfahrt-Bundesamt eine Klage vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen rechtshängig ist, mit dem die Kläger die Absicht verfolgen, die Betriebsstilllegung sämtlicher vom Abgasskandal betroffener Fahrzeuge zu erreichen. Hieraus kann sich eine Inanspruchnahme als Handlungsstörer ergeben, aus der dem Kläger weitere materielle Schäden drohen.

Nach der Rechtsauffassung der Kammer ist es zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr ausgeschlossen, dass das Kraftfahrtbundesamt bei den Genehmigungen gegen EU-Recht verstoßen hat und daher auch insoweit Nutzungsuntersagungen drohen.“

b) Die Feststellungsklage gegen die Beklagte zu 2 sei auch begründet, da dem Kläger ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 263 Abs. 1, 27 Abs. 1 StGB zustehe. Die Beklagte zu 2 habe der Audi AG Beihilfe zur Begehung eines Betruges geleistet, von diesem Betrug hätten auch die Vorstände der Beklagten zu 2 Kenntnis gehabt. Denn die Beklagte zu 2 sei der ihr insoweit obliegenden sekundären Darlegungslast nicht nachgekommen:

„Die Programmierung der Software setzt denknotwendig eine aktive, im Hinblick auf dieses Ergebnis gewollte präzise Programmierung der Motorsteuerungssoftware voraus und schließt die Annahme einer fahrlässigen Herbeiführung dieses Zustands aus (§ 291 ZPO). Ist eine solche Einstellung […] ausnahmslos bei jedem Motor dieser Serie auffindbar, spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass eine Entscheidung dafür, die Motoren mit dieser Einstellung planvoll und absichtlich zu produzieren und in den Verkehr zu bringen angesichts der Tragweite und Risiken für die Gesamtgeschicke eines so agierenden Konzerns durch die Geschäftsleitung selbst getroffen wurde und damit der Beklagten zu 2) zurechenbar ist gemäß § 31 BGB.

Der Kläger hat dargelegt, im Jahr 2004 habe die Robert Bosch GmbH im Auftrag der Audi AG erstmals eine Motorsteuerungssoftware als Abschalteinrichtung für Dieselmotoren entwickelt. Diese Software sei später in der Abteilung Antriebstechnik, Motoren und Übertragung unter der Leitung von Wolfgang I. bei der Audi AG weiterentwickelt worden.

Die Kenntnis des Vorstands der Beklagten zu 2) ergebe sich daraus, dass der Vorstandsvorsitzende der Audi AG von 2002 bis 2007, Martin Winterkorn, im Jahr 2007 zum Vorstandsvorsitzenden der Beklagten zu 2) wurde. Mit ihm sei Herr I. als Leiter der Abteilung Antriebstechnik zur Beklagten zu 2) gewechselt. Der leitende Chefentwickler, K., sei von 2002 bis 2007 bei der Audi AG gewesen und dann zur Beklagten zu 2) gewechselt [...]

Die Entwicklungsingenieure der Audi AG hätten in den Jahren 2005 und 2006 im Rahmen der Optimierung der Stickoxidwerte und den jeweiligen Abgasrückführungswerten festgestellt, dass die Erhöhung der Abgasrückführungswerte zu einem schnellen Zusetzen der Partikelfilter führten. [...] Mit diesen Testergebnissen im Rücken habe der Vorstandsvorsitzende der Audi AG Ende des Jahres 2006 entschieden, dass es unmöglich sei, das Abgasrückführungssystem so zu optimieren, dass Langzeitschäden an Motor und Partikelfilter verhindert werden können. Vor diesem Hintergrund habe man sich in Kenntnis des Vorstands dafür entschieden, die Software einzusetzen, um ausschließlich für den Prüfbetrieb eine Motoreinstellung zu besitzen, die die gesetzlichen Stickoxidwerte einhält. Hiernach habe der Vorstand der Beklagten zu 2) unter Nutzung der Software daran gearbeitet, durch die Bewerbung einer „Clean-Diesel“ Motorisierung unter Heraushebung der besonderen Umweltfreundlichkeit der von ihr hergestellten Diesel-Fahrzeuge zum Weltmarktführer aufzusteigen. Dies ergebe sich aus einer Rede des Vorstandsvorsitzenden der Beklagten zu 2) [...].

Für die Erreichung des Ziels habe man die Verbraucher ebenso wie die Zulassungsbehörden durch die massenhafte Falschausstellung von Übereinstimmungsbescheinigungen täuschen müssen, was ein organisiertes Zusammenwirken des Gesamtkonzerns voraussetze. [...]

Dem ist die Beklagte zu 2) nicht entgegengetreten.

Soweit die Beklagte zu 2) lediglich einfach bestreitet, dass ihr Vorstand von der Softwaremanipulation Kenntnis hatte, trifft sie angesichts der offenkundigen Anknüpfungstatsachen die Darlegungs- und Beweislast für diesen Vortrag. Denn bereits auf der Grundlage der offenkundigen Tatsachen muss der Vorstand der Beklagten zu 2) Kenntnis von den Tatsachen gehabt haben, über die die Audi AG später beim Ausfüllen der Übereinstimmungsbescheinigungen täuschte.

Angesichts des lange bekannten Zielkonflikts zwischen möglichst geringer Kohlendioxidemission und der Begrenzung der Stickoxidemission sowie den ebenfalls bekannten Schwierigkeiten, den Stickoxidausstoß ohne Verwendung der AdBlue Technologie innerhalb des von der Euro 5 Norm vorgegebenen Rahmens zu halten, ohne Motorschäden, Leistungsminderungen oder einen erhöhten Kohlendioxidausstoß in Kauf zu nehmen, hätte für den Vorstand der Beklagten zu 2) ein deutlicher Anlass zu einer genauen Überprüfung der Abläufe in ihrem eigenen Unternehmen bei der Herstellung der Motoren bestanden, als aus Sicht der für die Motorenentwicklung zuständigen Mitarbeiter die Auflösung dieses Zielkonflikts angeblich auf einmal gelungen war.

Der Vorstand hat das Unternehmen den gesetzlichen Bestimmungen gemäß zu organisieren und zu führen (sog. „Compliance“ […]). Im Hinblick auf gesetzliche Pflichten (vgl. etwa §§ 76, 77, 91 Abs. 2 AktG) ist davon auszugehen, dass bei der Beklagten zu 2) organisatorische Maßnahmen (u.a. etwa durch Einrichtung von Innenrevision und Controlling […]) in der Weise getroffen wurden, dass Berichtspflichten gegenüber dem Vorstand für alle wesentlichen Entscheidungen eingerichtet sind und deren Einhaltung durch Kontrollmaßnahmen auch gewährleistet ist.

Die Verwendung einer verbotenen Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 der EU-VO 715/2007/EG beim Bau der Motoren darf für den Vorstand eines fachkundigen Motorbauunternehmens und Fahrzeugherstellers keine fernliegende Gefahr darstellen. Der europäische Gesetzgeber hatte diese Möglichkeit eigens zum Anlass genommen, ein entsprechendes Verbot zu statuieren und so auf dieses Problem in besonderer Weise hingewiesen. Wegen der Warnwirkung, die von dieser Vorschrift ausgeht, musste sich den Organen der Beklagten zu 2) die Möglichkeit der Verwendung einer solchen Abschalteinrichtung geradezu aufdrängen. Soweit die Organe der Beklagten zu 2) trotz der schon durch der für die Typengenehmigung maßgeblichen EU-Verordnung 715/2007/EG offenkundigen Möglichkeit, dass eine solche Abschalteinrichtung verwendet wird, nicht eingegriffen und die weitere Produktion der Motoren durch ihre Mitarbeiter ohne jede weitere Prüfung geduldet und gleichsam nicht verhindert haben, gereicht dieses Verhalten zum Vorwurf des vorsätzlichen Unterlassens i.S.d. § 13 Abs. 1 StGB."

Anmerkung
Ob die Entscheidung in der Hauptsache - Stichwort sekundäre Darlegungslast - wirklich durch sämtliche Instanzen Bestand haben wird, bleibt abzuwarten, auch wenn die Argumentation durchaus überzeugend scheint. Hinsichtlich der Zulässigkeit der Feststellungsklage bringt die Entscheidung nichts Neues, zeigt aber noch einmal, dass die Feststellungsklage das Mittel der Wahl ist, wenn – wie in den Fällen des VW-Abgasskandals – noch nicht abzusehen ist, inwieweit den betroffenen Käufern in Zukunft durch Fahrverbote u.ä. noch Vermögenseinbußen drohen. Am Vorrang der Leistungsklage (den es so nach der Rechtsprechung des BGH übrigens gar nicht gibt) scheitert die Feststellungsklage ebenfalls nicht. Denn eine Feststellungsklage ist trotz der Möglichkeit, Leistungsklage zu erheben, zulässig, wenn sie „unter dem Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit zu einer sinnvollen und sachgemäßen Erledigung der aufgetretenen Streitpunkte führt“ (s. dazu ausführlich hier). Und: Die Feststellungsklage war auch begründet, auch wenn nur das Vermögen des Klägers und nicht ein absolut geschütztes Rechtsgut oder Rechtsgut betroffen war (diese Differenzierung wird in der Praxis leider allzu oft übersehen). Denn der Eintritt weitere Schäden war nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich (s. dazu ausführlich hier). Und: Vielen Dank an Oliver Löffel, der mich auf die Entscheidung aufmerksam gemacht hat. Anmerkung/Besprechung, LG Krefeld, Urteil vom 19.07.2017 – 7 O 147/16. Foto: Kickaffe (Mario von Berg) | 2015 Audi Q3 2.0 TDI quattro Facelift Typ 8U Tankeinfuellstutzen AdBlue | CC BY-SA 4.0