Der Traum vom apolitischen Zivilprozessrecht

Es ist sehr erfreulich, dass der im Allgemeinen weitgehend an Praktiker gerichtete zpoblog sich immer mal wieder auch theoretischen Überlegungen öffnet. So auch mit den beiden Beiträgen von Dr. Roman Kehrberger, in denen er etwas abstrakter vor allem die Grundthesen seiner Dissertation einerseits und die praktischeren Konsequenzen des zuvor Dargelegten am Beispiel der Musterfeststellungsklage andererseits greifbar macht. Kehrberger ist zu danken, dass er sich dieser Diskussion mit seinen Thesen stellt. Einige der von ihm ausgeführten Punkte scheinen mir jedoch zweifelhaft. Anders als von ihm angenommen, lässt sich anhand der VW-Musterfeststellungsklage erahnen, welche wichtige Funktion kollektiver Rechtsschutz auch in Deutschland erfüllen könnte; sie dient somit nicht als Beleg für die Mängel von kollektivem Rechtsschutz an sich (I.). Der mit Kollektivklagen bezweckte Schutz strukturell unterlegener Parteien ist ein legitimes Anliegen des Gesetzgebers, dessen demokratische Gestaltungsfreiheit sich auch bei der Reform des Prozessrechts keineswegs in der formalen Gleichbehandlung erschöpft (II.). Dies steht weder im Widerspruch zu den Grundprinzipien des liberalen, demokratischen Rechtsstaates, noch handelt es sich um eine unzulässige Besserstellung bestimmter Prozessparteien, seien es Verbraucher oder sonstige Geschädigte von Masseschadensfällen (III.). Es gilt daher zu hoffen, dass es im deutschen und europäischen Recht noch zu einer grundlegenden Ausweitung der kollektiven Rechtsschutzmöglichkeiten kommt (IV.).

I. Zur Kritik an der Kritik der Musterfeststellungsklage

Kehrberger wendet sich gegen die, auch vom Gesetzgeber der Musterfeststellungsklage „grundlegende, oft unausgesprochene Prämisse“, die „‚Verbraucherrechte‘ bestünden grundsätzlich und müssten nur besser durchgesetzt werden“. Diese sei bereits dadurch widerlegt, dass „nur“ 260.000 der 430.000 Verbraucher, die sich zum Klageregister angemeldet hatten, von VW entschädigt wurden. Aus diesen Zahlen zieht Kehrberger den Schluss, dass nicht die mangelnde Durchsetzung der Rechte das Problem ist, sondern tatsächlich das Bestehen der Rechte als solches. Die Zahlen sprechen jedoch eine andere Sprache: Natürlich kommt in einem liberalen Rechtsstaat nur ein Bruchteil der rechtswidrigen Akte vor Gericht. Aber es ist ein legitimes Ziel, diese Lücke nicht zu groß werden zu lassen. Die Musterfeststellungsklage hat trotz der beeindruckend hohen Anmeldezahlen noch nicht ansatzweise alle Geschädigten erfasst, wenn man bedenkt, dass VW allein in Deutschland über 2,5 Millionen Fahrzeuge mit dem manipulierten Motor EA 189 verkauft hat; die Millionen im Ausland geschädigten Abnehmer bleiben ohnehin außen vor. Was dies jedoch alles mit den 260.000 berechtigten Anspruchsinhabern zu tun haben soll, erklärt Kehrberger nicht. Diese Ansprüche waren – so kann man annehmen – begründet und wären vermutlich gerade nicht ohne die Musterfeststellungsklage durchgesetzt worden, auch wenn sie – wie Pollmann zurecht darlegt – unter Preis verkauft sein dürften. Die hohe Annahmequote bei dem angebotenen Vergleich lässt keine sicheren Rückschlüsse dahingehend zu, dass dieser angemessen war. Die Geschädigten wollten angesichts der bevorstehenden Rücknahme der Musterfeststellungsklage den Rechtsstreit lieber hinter sich bringen, da sie ansonsten noch einmal vor Gericht gehen müssten, diesmal im Zweifel auf eigenes (Kosten-)Risiko und obwohl sie sich doch gerade zuvor gegen eine Einzelklage entschieden hatten. Dass nur ca. 60 % der Angemeldeten ein Vergleichsangebot erhielten, hängt nicht zuletzt mit einem Grundmangel der Musterfeststellungsklage zusammen. Es wäre ein Leichtes gewesen, alle angemeldeten Fahrzeuge bei der Anmeldung anhand der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) daraufhin zu überprüfen, ob ein Anspruch aufgrund des Fahrzeugtyps in Frage kommt. Dass dies die Musterfeststellungsklage nicht geleistet hat, ist einer von vielen Mängeln der Musterfeststellungsklage, da diese stets mit dem Problem zu kämpfen haben wird, dass weder klar ist was reinkommt (unkontrollierte Anmeldung) noch was rauskommt (was passiert nach Erlass des Musterbescheids). Es kann deswegen nicht überraschen, dass ein „echter“ Vergleich im Rahmen der Musterfeststellungsklage für die meisten Beklagten kaum in Betracht kommen wird. Auf Beklagtenseite wird man jedenfalls sehr genau überlegen müssen, welche Geldsumme man auf einen ungeprüften Anspruch zahlt, wenn zugleich unsicher ist, wie viele der Teilnehmer überhaupt später noch ihren Anspruch – notfalls vor Gericht – durchsetzen würden. Diese Unsicherheiten machen sich bei der ökonomischen Bewertung der einzelnen Forderungen bemerkbar. Von daher ist Kehrberger ganz grundsätzlich zu widersprechen: Trotz des Achtungserfolges, der das große Potenzial von kollektivem Rechtsschutz verdeutlicht, hat die Musterfeststellungsklage aus strukturellen Gründen eher zu wenige Kunden zu niedrig entschädigt. Die Einführung der Musterfeststellungsklage kann deswegen nur ein erster wichtiger Schritt gewesen sein, dem die Schaffung einer echten Gruppen- oder Sammelklage folgen sollte, bei der die Geschädigten nicht auf die Zusage eines staatlich finanzierten Verbands angewiesen sind, moderne Technologie zum Einsatz kommt und die finanziellen Anreize der Beteiligten auf einen möglichst großen Erfolg der Geschädigten gerichtet sind. Die beteiligten Anwälte sollten dabei weder von vornherein auf eine Quersubventionierung noch auf eine Sondervergütungsvereinbarung als Teil des außergerichtlichen Vergleichs mit der Gegenseite angewiesen sein.

II. Problematische Bündelung rechtspolitischer Ziele?

Den „eigentlichen Knackpunkt des kollektiven Rechtsschutzes“ sieht Kehrberger aber nicht in den Details der Musterfeststellungsklage, sondern darin, dass es beim kollektiven Rechtsschutz „nicht allein – wie oft behauptet – um die bessere Durchsetzung individueller materiell-rechtlicher Ansprüche, sondern um ein Bündel weiterer rechtspolitischer Ziele“ gehe. Kehrberger meint sieht dabei einen Gegensatz zwischen der Bündelung von präventiver, regulativer Ordnungspolitik einerseits und klassischem Individualrechtsschutz andererseits. Während er das öffentliche Recht (einschließlich Strafrecht) für die Ordnungspolitik vorsieht, sei insbesondere das Zivilprozessrecht ausschließlich für Letzteres zuständig. In seinem allgemein gehaltenem Blogbeitrag legt er dieses „liberale und freiheitliche Verständnis des Zivilprozessrechts“ dar, wonach eine ordnungspolitische Inanspruchnahme des Zivilprozessrechts „strikt abzulehnen“ sei. Kehrberger unterscheidet hier unter Berufung auf Damaška zwischen dem „conflict-solving type“ und dem „policy-implementing type“ von Prozessrecht (ausführlicher Kehrberger, Die Materialisierung des Zivilprozessrechts, S. 30 f.). Ersterer sei dadurch bestimmt, dass es sich um die Verfahrensregeln handelt, auf die sich potenzielle Prozessparteien „sinnvoller- und fairerweise einigen würden“, während Letzterer das Prozessrecht unzulässigerweise als „Steuerungsinstrument zur Umsetzung ordnungspolitischer Leitlinien“ verstehe. Bereits der Anschein einer solchen „Steuerung“ müsse vermieden werden (vertieft wird dies bei Kehrberger, Die Materialisierung des Zivilprozessrechts, S. 291 ff.). Schon im Ansatz scheint dies ein seltsamer Anspruch. Es gibt kein Gesetz, das auf einen puren, reinen Willen des Gesetzgebers zurückgeht. „Einen“ solchen Gesetzgeber, der sich der Bündelung rechtspolitischer Motive enthält, gab es nicht bei der von Kehrberger gerne etwas romantisierten CPO von 1879; in einem demokratischen Mehrebenensystem, bei dem man gleichzeitig mehr als einem Gesetzgeber dient, wird es dies noch viel weniger geben. Auch normativ ist nicht klar, wieso der Gesetzgeber nicht auch den Output seines Tuns beachten darf. Nach dem Bundesverfassungsgericht muss er dies sogar, um dem grundrechtlich garantierten „Zugang zum Recht“ zu gewährleisten. Dagegen ist die dem „conflict-solving type“ zugrunde liegende Gerechtigkeitsvorstellung, dass wir unseren demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren hinter einem Rawlschen „Schleier des Nichtwissens“ zustimmen können sollten, weder neu noch steht dies im Widerspruch zu Steuerungsabsichten im Prozessrecht. Ein rechtsstaatliches Verfahren, dem die Beteiligten zuvor – ohne Kenntnis der eigenen Identität und des eigenen Lebenslaufs – zustimmen könnten, kann ohne Weiteres eine Vielzahl von verschiedenen Zielen und Zwecken verfolgen. Fernliegend ist im Besonderen die Unterstellung, dass unser Gesetzgeber den liberalen Grundkonsens (das „liberale und freiheitliche Verständnis des Zivilprozessrechts“) verlasse, weil er bestimmte Missstände in der Gesellschaft zum Anlass einer ZPO-Gesetzesreform nimmt und dies in den Drucksachen dokumentiert wird. Es ist mit demokratischer Gesetzgebung schlicht unvereinbar, würden wir Juristen dem Gesetzgeber vorschreiben, welche Motive er mit seinen Gesetzen verfolgen darf, solange diese Gesetze formell wie materiell mit der Verfassung im Einklang stehen. Etwas anderes folgt auch nicht aus der von Kehrberger herangezogenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Menschenwürde, die das freie Individuum als Mittelpunkt der Rechtsordnung betont (Kehrberger, Die Materialisierung des Zivilprozessrechts, S. 315). In der Demokratie sind die Bürger zugleich Adressaten und Autoren der Gesetze. Anders als in Zeiten der CPO von 1879 widerspricht es keineswegs meinem Recht auf Selbstbestimmung, wenn ich an Gesetze gebunden bin, die den „Kehrberger-Test“ nicht bestehen. Genau dies ist ja ein Ausdruck von Freiheit und Selbstbestimmung – weswegen ein Urteil auch nicht im Namen der ZPO, sondern im Namen des Volkes ergeht. Es ist leider ein beliebtes Muster, die Immunisierung der eigenen Argumentation dadurch voranzutreiben, dass bestimmte dogmatische Grundprinzipien als unverrückbar bezeichnet werden. Zugleich wird dann die komplette Wertfreiheit des eigenen Vorhabens betont, ja sogar gerade die wertorientierte Aufladung des Rechts zum Gegner erklärt. Wenn Kehrberger soziale Zwecksetzungen im Prozessrecht auch mit dem Hinweis darauf ablehnt, dass die „wohl nicht zufällig“ in „totalitären Systemen wie der NS-Diktatur oder der DDR“ angestrebt worden sei und damit „Willkür Tür und Tor geöffnet“ habe (Kehrberger, Die Materialisierung des Zivilprozessrechts, S. 309 f.), dann macht er es sich jedenfalls zu einfach. Es gibt in der Rechtsgeschichte genug Gegenbeispiele, bei denen gerade nicht die Werte- oder soziale Zweckorientierung die Gesetzesbindung unterminiert hat. Auch unter der Fahne der besonderen Wertneutralität und strikten Gleichbehandlung der Parteien sind schon zutiefst ungerechte und mit dem modernen, liberalen Rechtsstaat unvereinbare Verfahren geführt worden. Mit Blick in die USA fällt einem hier der einflussreiche Beitrag von Herbert Wechsler als Gegenbeispiel ein, dessen Aufsatz zu den neutralen Prinzipien des Verfassungsrechts bis heute den konservativen Verfassungsrechtlern erlaubt, unter Berufung auf eine angebliche Neutralität jede Politik abzulehnen, die benachteiligte Minderheiten fördert. Wenn man noch weiter zurückblickt, dann kann man sehen, wie schon nach dem amerikanischen Bürgerkrieg der US Supreme Court die ersten Civil Rights Acts, die eine auch nur ansatzweise Gleichstellung der befreiten Sklaven beabsichtigten, mit dem Argument für verfassungswidrig erklärte, dass dem Staat solcherlei Eingriffe nicht erlaubt seien. Kein Bürger dürfe „special favorite of the law“ sein (109 U.S. 3, 25 [1883]). Es handelt sich bei diesem Versuch der wertneutralen Entpolitisierung der eigenen Prinzipien aber keineswegs um eine rein konservative Strategie. In der, gerade auch in Deutschland beliebten, Diskussion zu einem sich herausbildenden europäischen, ja globalen Verfassungsrecht wird vor allem mit den von Luhmann oder Habermas abgeleiteten völlig neutralen und verfahrensfixierten Methoden gearbeitet und am Ende ist es offenbar reiner Zufall, dass das globale Verfassungsrecht dem der grundgesetzlich verfassten Bundesrepublik verdächtig ähnlich sieht. Bei Kehrberger rechtfertigen die großen liberalen und rechtsstaatlichen Prinzipien ebenfalls vor allem den in Deutschland vorherrschenden Ist-Zustand. Der ZPO will er nur „punktuelle Reformen“ erlauben, um so den liberalen, freiheitlichen Rechtsstaat zu erhalten und für die Zukunft wetterfest zu machen. Die ZPO und die dazugehörigen Normen des GVG, RVG, etc. sind aber weder vom Himmel gefallen noch vor politischer Gestaltung gefeit. Auch im Zivilprozessrecht gibt es kein unpolitisches Standardprogramm, an das der Gesetzgeber gebunden wäre. Die weitgehende Abwesenheit von Discovery-Rechten in Deutschland ist genauso politisch wie es ihre Existenz wäre. Ergebnis des status quo ist, dass selbst dort, wo das deutsche Recht kollektive Rechtsschutzmöglichkeiten vorsieht (z.B. im KapMuG), Rechtsstreitigkeiten Jahrzehnte dauern, die in den USA in einem Bruchteil dieser Zeit aufgeklärt und beilgelegt wurden (vgl. diesen Artikel von Michael Halberstam zum Beispiel des Telekom-Skandals). Ebenso gibt es keinen juristischen Grund dafür, warum kollektiver Rechtsschutz nicht in unser Rechtssystem passen sollte. Dies gilt umso mehr, solange wir über eine schlichte opt-in-Sammelklage sprechen, bei der sich also jeder Anspruchssteller aktiv beteiligen muss. Aus dem Vorstehenden folgt, dass der von Kehrberger erhobene Anspruch auf ordnungspolitische Reinheit des Zivilprozessrechts praktisch unrealistisch ist und zudem im Konflikt mit der Freiheit des demokratischen Gesetzgebers steht. Es bleibt zu prüfen, ob die juristisch vorgetragenen Argumente Kehrbergers für einen unbedingten Vorrang des Individualrechtsschutzes als rechtspolitisches Statement in Bezug auf die vorgebliche Besserstellung bestimmter Personengruppen überzeugen können.

III. Kollektiver Rechtsschutz und Chancengleichheit

Kehrberger sieht bei der Einführung von kollektivem Rechtsschutz die Gefahr, dass aus ordnungspolitischen Gründen die formale Gleichbehandlung von Parteien verletzt wird. Wie aber immer dann, wenn es um Gleichbehandlung geht, stellt sich die Frage nach formaler und materieller Gleichheit, also vor allem der Chancengleichheit. Während Kehrberger – und hier ist ihm zuzustimmen – zurecht auch günstigen Bagatellverfahren, smart contracts, Online-Gerichte, etc. und der Begegnung der dort vorherrschenden, „rationale[n] Apathie“ offen gegenüber steht, so zeigt er jedoch kein Verständnis dafür, dass es auch bei höheren Streitwerten einer verbesserten Chancengleichheit bedarf. Kehrberger vermengt darüber hinaus zwei Fragen: Die angebliche prozessuale Besserstellung massenhaft Geschädigter gegenüber individuell Geschädigten mit der Einführung von kollektivem Rechtsschutz einerseits (1.) und die Differenzierung von Verbrauchern und anderen Geschädigten andererseits (2.).

1. Besserstellung der Geschädigten von Masseschäden?

Kehrberger sieht keinen Bedarf für eine Besserstellung der Geschädigten von Masseschäden. Der VW-Abgasskandal dient ihm hier als Negativbeispiel: So kritisiert er, dass im Zusammenhang mit dem Dieselskandal versucht werde, das schadensrechtliche Bereicherungsverbot bzw. die Differenzhypothese des deutschen Schadensrechts in Frage zu stellen. Dies wird von ihm nicht weiter erläutert und die von Kehrberger zu diesem Thema mitverfassten Kurzanmerkungen stellen diese These ebenfalls lediglich apodiktisch in den Raum. Aber ohnehin ist hier nicht der richtige Ort, um dieser These zu begegnen (dies könnte meine Kollegin Indra von Mirbach auch besser, auf deren Aufsatz ich deswegen verweise). Die Grundaussage, die Kehrberger trifft, ist jedenfalls, dass im Dieselskandal seiner Ansicht nach die materiell-rechtliche, übertriebene Inanspruchnahme von Volkswagen mit einer „prozessualen Besserstellung“ dieser Ansprüche der betrogenen Autokäufer zusammentreffe. Auch der zweite, prozessuale Teil dieser Behauptung ist schon verfehlt. Bei der Musterfeststellungsklage lässt sich bereits aufgrund der schwerwiegenden Mängel dieses Instituts nur schwer von einer echten Besserstellung reden. Aber selbst ein effektiveres Modell des kollektiven Rechtsschutzes wäre zweifellos gerechtfertigt, wie ein Blick auf das enorme strukturelle Ungleichgewicht der Parteien verdeutlicht. Dabei ist Kehrberger zuzustimmen, dass man hier den Blick nicht auf die prozessualen Regeln allein fokussieren darf. Bereits der vorgelagerte juristische Erkenntnisprozess steht nämlich unter dem Eindruck des zugrundeliegenden Machtgefälles. Bemerkenswert im Hinblick auf die Sorge Kehrbergers, dass hier der Autokonzern übervorteilt werden könnte, ist daher bereits, dass er die rechtliche Position von Volkswagen als vorzugswürdig bezeichnet und dabei zwei Literaturmeinungen zueinander in Relation setzt, nämlich einerseits Riehm, der in der NJW (2019, 1105 ff.) in dieselbe Kerbe stößt und andererseits Wagner, der in seiner MüKo-Kommentierung zu § 823 BGB dem Deliktsrecht auch eine Präventionsfunktion zukommen lassen möchte. Es ist gut möglich, dass Kehrberger dabei gar nicht wusste, dass er hier für beide Seiten der Diskussion zwei von einer Vielzahl seitens Volkswagen bzw. seinen Anwälten bezahlter Auftragsgutachtern zitiert. Das von ihm hier abgedeckte Meinungsspektrum ist folglich von vornherein nicht besonders weit. Zudem ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass gutachterliche Arbeiten auch auf das wissenschaftliche Werk zurückwirken, sei es durch den Autor selbst oder vermittelt durch die von seinem Wort ausgehende Autorität, die sich gerade nicht auf die konkreten Auftragsarbeiten beschränkt. Wer gegen VW klagt, bekommt nämlich dicke Umschläge voller Autoritäten zugesandt und der angerufene Richter findet in den einschlägigen Zeitschriften und Datenbanken kaum noch Literaturmeinungen, die nicht von mehr oder weniger ausreichend gekennzeichneten Auftragsgutachtern verfasst sind (vgl. dazu die Berichterstattung im Handelsblatt und auch im SPIEGEL). Es wird also nicht selten vorkommen, dass eine Auswertung der wissenschaftlichen Meinungsbildung - wie bei Kehrberger - eher die Nuancen der von der Beklagtenseite engagierten Auftragsgutachter wiedergibt. Das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Kläger und Beklagten bildet sich folglich auch im juristischen Diskurs ab, der – da brauchen wir uns nichts vormachen – eben auch von der Verfügbarkeit eines Arguments, simpler Masse an Publikationen mit einer Stoßrichtung und von Respekt vor anerkannten Autoritäten geprägt ist. Der VW-Fall ist sicher ein Extrembeispiel. Allerdings gibt es beim Abgasskandal inzwischen immerhin auch auf Klägerseite spezialisierte Anwälte, Prozessfinanzierer und Inkassodienstleister, die ein gewisses Gegengewicht auf die Waage bringen und teilweise sogar Gegengutachten finanzieren können. Es ist deswegen auch kein Zufall, dass der erste Diesel-Fall, der nun den BGH erreichte, vom Inkassodienstleister myRight unterstützt wurde (vgl. Juve-Berichterstattung), dessen Inkasso-Sammelklagen von höchstrichterlichen Entscheidungen profitieren können und auf diese Weise ein Stück weit Chancengleichheit herstellt. Einem Einzelkläger fehlt hierzu jeder Anreiz, er lässt sich im Zweifel abkaufen und nur die für den Beklagten günstigen Fälle werden gezielt zum BGH durchgelassen. Für den massenweise verklagten Konzern handelt es sich nämlich um ein skalierbares Geschäft, das er industriell perfektionieren kann. Wer hunderten oder tausenden ähnlich gelagerten Fällen gegenübersteht, ist als „repeat player“ strukturell im Vorteil, da Effizienzen leicht herzustellen sind. Darüber hinaus lohnen sich die Kosten für Anwälte, Gutachten, etc. aber auch aus einem weiteren Grund. Da es für den Beklagten bei jedem der tausenden Einzelverfahren um die Verhinderung von nachteiligen Präjudizien geht, hat jedes Verfahren eine viel größere Bedeutung, als es ein Einzelfall für den Kläger hat, der in der Regel nur einmal klagen kann. Es steht für den Beklagten also immer alles auf dem Spiel, weswegen einzelne Kläger im Fall der Fälle – also einem drohenden Präjudiz – vergleichsweise überkompensiert werden können, solange die Rechnung noch insgesamt stimmt (vgl. dazu Morell). Von den hehren Grundsätzen der Differenzhypothese oder dem schadensrechtlichen Bereicherungsverbot ist ein solches Ausspielen der einzelnen Anspruchsinhaber letztendlich weit entfernt. Es ist eine Gesamtkalkulation, die nur der Beklagtenseite ermöglicht wird und der Klägerseite bei Einzelverfahren vorenthalten bleibt. Es braucht sich daher keiner Sorgen um die prozessuale Benachteiligung der Beklagten machen. Von Chancengleichheit sind wir im deutschen Prozessrecht noch weit entfernt. In der Terminologie von Kehrberger: Es geht um die Herstellung fairer Bedingungen, denen abstrakt jeder zustimmen könnte. Wir sprechen über den Kern des „conflict-solving type“. Bei vielen anderen Fällen, die nicht so im Blickpunkt der Öffentlichkeit und Prozessfinanzierer stehen wie der VW-Fall, sieht es für potenzielle Kläger noch deutlich schwieriger aus. Selbst wenn hier ein Einzelkläger Erfolge feiert, kann er sicher sein, dass das Urteil im Anschluss in den Fachpublikationen von den zahlreichen auf Beklagtenseite tätigen Kanzleien und ihren Gutachtern kleingeredet wird. Die Vorstellung von Kehrberger, dass der eine oder andere richterliche Hinweis nach § 139 ZPO dieses strukturelle Machtgefälle bei Masseschadensfällen beseitigen könnte, zeugt von einem bewundernswerten Glauben in die Unanfechtbarkeit juristischer Dogmatik. Ins Fußballerjargon übersetzt wäre Kehrberger ein Vertreter des Ansatzes „Geld schießt keine Tore“. Wenn Kehrberger aber im Gegenzug den überholten Mythos von der „legalisierten Erpressung“ durch Sammelklagen herauskramt, so scheint er sich der Standhaftigkeit von Dogmatik plötzlich weniger sicher zu sein. Darüber hinaus sei zum einen darauf verwiesen, dass es sich hierbei um ein Problem handelt, dass auch in den USA spätestens seit den 1990ern als widerlegt gelten kann (vgl. etwa hier). Zum anderen zeigt doch gerade der VW-Abgasskandal sehr anschaulich, dass der durch öffentliche Anprangerung erzeugte Druck weder die Vergleichsbereitschaft zu erhöhen noch das Image des Unternehmens ernsthaft zu beeinträchtigen scheint. Ansonsten wäre Volkswagen schon vor Jahren auf die Kläger(-gruppen) zugegangen und nicht erst kurz vor einer drohenden BGH-Niederlage. Es besteht demnach bei Masseschadensfällen ein nicht zu leugnendes, strukturelles Machtungleichgewicht, das durch die Ausweitung effektiven, kollektiven Rechtsschutzes verringert werden könnte, ohne dass dies auch nur ansatzweise ein Gerechtigkeitsproblem mit sich brächte. Kehrberger stört aber nicht nur die angeblich dem kollektiven Rechtsschutz inhärente, vermeintliche Besserstellung von Klägern im Allgemeinen. Als ungerechtfertigte Bevorzugung empfindet er auch, dass der Gesetzgeber hier Verbrauchern ein Sonderrecht einräume.

2. Besserstellung von Verbrauchern?

Dass derzeit kollektiver Rechtsschutz sowohl in Deutschland als auch in der EU vor allem mit Blick auf Verbraucherrechte diskutiert wird, ist tatsächlich zu kurz gedacht, kommt aber auch nicht von ungefähr. Viel zu häufig haben wir zwar auf dem Papier einen besonders hohen Verbraucherschutz, der aber vor allem von denjenigen genutzt wird, die den finanziellen Spielraum, die Muße und Expertise haben, sich darauf zu berufen. Damit subventionieren die Unterprivilegierten, die ihre Rechte nur in der Theorie genießen, im derzeitigen System noch einen Verbraucherschutz, der allzu häufig – um es überspitzt zu sagen – von Juristen in ihrer Freizeit oder von rechtsschutzversicherten Studienräten erfolgreich eingefordert wird. Gleichzeitig haben wir es in Deutschland mit einer immer weiter auseinandergehenden Schere zwischen arm und reich zu tun (dazu Fratzscher). Wenn etwa 40 Prozent der Deutschen über keinerlei nennenswertes Vermögen verfügen, dann werden sie keine Bagatellschäden einklagen und auch bei ernsthafteren Schäden sehr gut überlegen, ob sie sich individuell und auf eigenes Risiko einen Anwalt nehmen. Dies bildet sich in den sinkenden Eingangszahlen bei den Zivilgerichten ab und schwächt das Vertrauen in das Recht. Mir will deswegen nicht einleuchten, wieso eine breite und effektive Durchsetzung der demokratisch sowieso bereits geschaffenen Verbraucherrechte nur deswegen als verpönter „policy-implementing type“ von Prozessrecht abgelehnt werden sollte, weil es sich nicht um den Zugang zu klassischem Individualrechtsschutz, sondern um kollektiven Rechtsschutz handelt. Die Verengung der Diskussion auf Verbraucherrechte birgt jedoch – und hier stimme ich Kehrberger zu – die Gefahr, dass damit der rechtspolitisch ungeschickte Eindruck erzeugt wird, dass eine Klientelpolitik zugunsten der Verbraucher und zulasten der Wirtschaft beabsichtigt wird. Es kann niemanden wundern, dass sich die Industrieverbände in diesem Fall herausgefordert fühlen, jedes Diskussionspanel zu besetzen, um gegen die Ausweitung von kollektivem Rechtsschutz zulasten der Wirtschaft zu wettern, selbst wenn ein großer Teil der Industrie – etwa nach einer Schädigung durch ein Kartell oder etwa angesichts der Übermacht von global tätigen Internetgiganten und anderen global players – sehr dankbar ist, wenn und soweit es kollektive Rechtsschutzmöglichkeiten gibt. Bei den Geschädigten des Lkw-Kartells oder des Zuckerkartells, um nur zwei jüngere Beispiele zu nennen, handelt es sich ganz vorrangig um mittelständische Unternehmen, die häufig aus völlig nachvollziehbaren und ökonomisch zwingenden Gründen eine Einzelklage ausschließen und sich damit in einer Situation wiederfinden, die häufig eher mit Verbraucherschutz assoziiert wird. Das strukturelle Durchsetzungsdefizit von Verbraucherrechten ist nicht zu leugnen und wichtiger Ansatzpunkt. Wenn dieses Narrativ jedoch überbetont wird, droht sich der Diskurs zu sehr zu einer Gegenüberstellung von Wirtschaft einerseits und Verbrauchern andererseits zu verschieben. Eine gesellschaftsweit akzeptable Stärkung des kollektiven Rechtsschutzes, sollte sich aus politischer Klugheit an der Gegenüberstellung der weitgehenden Mehrheit der rechtstreuen Akteure gegenüber der rechtsbrechenden Minderheit orientieren. Kehrbergers Behauptung, dass kollektiver Rechtsschutz generell eine unberechtigte prozessuale Besserstellung der Geschädigten mit sich bringe, überzeugt spätestens dann auch nicht mehr rechtspolitisch, wenn strukturelle Defizite unabhängig von Verbraucherdefinitionen ernst genommen werden.

IV. Schluss

Es bleibt festzuhalten, dass die Einführung der Musterfeststellungsklage einen ersten Schritt darstellt, bestehende Durchsetzungsdefizite anzugehen. Die These Kehrbergers, dass eine Ausweitung des kollektiven Rechtsschutzes systemwidrig sei, kann dagegen weder dogmatisch noch rechtspolitisch überzeugen. Es zeugt von einer gewissen methodischen Naivität und einem verkürzten Demokratiebegriff, wollte man das Zivilprozessrecht entpolitisieren. Richtig und wichtig ist jedoch, dass die Befürworter einer Ausweitung des kollektiven Rechtsschutzes sowohl im linken als auch im rechten politischen Spektrum zu finden sind (vgl. jüngst Fitzpatrick und dazu auch Halfmeier). In vielen Staaten, die Deutschland an Modernität und Rechtsstaatlichkeit in nichts nachstehen, und nicht zuletzt bei der Europäischen Kommission setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass die kollektive Rechtsdurchsetzung dazu beitragen kann, die Rechtsschutzlücken zu schließen, die weder von Instituten wie der Prozesskostenhilfe noch von repräsentativen Klagen durch Verbände abgedeckt werden. Es bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber – sei es auf nationaler oder europäischer Ebene – den begonnenen Weg fortsetzt. Bisher bekommt die praktische Durchsetzbarkeit von bestehenden Rechten nicht annähernd die Aufmerksamkeit, die sie verdient hätte. Mit Symbolpolitik, die auf dem Blatt viel verspricht und in der Praxis niemandem weh tut, verspielen wir auf Dauer das Vertrauen der Bürger, auf das der liberale, freiheitliche Rechtsstaat angewiesen ist.

Dr. Christopher Unseld, LL.M. (Michigan) ist Rechtsanwalt bei Hausfeld Rechtsanwälte LLP in Berlin und insbesondere in großen kartellschadenersatzrechtlichen Verfahren auf Klägerseite involviert. Die Kanzlei vertritt auch den Inkassodienstleister myRight in Fällen zum VW-Abgasskandal. Dieser Beitrag gibt aber allein die persönliche Ansicht des Autors wieder.