Ziemlich schwierig: Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft

Die Feststellung, wie weit die materielle Rechtskraft (§ 322 ZPO) eines Urteils reicht, ist in vielen Fällen nicht einfach zu beantworten und bereitet in der Praxis häufig nicht unerhebliche Probleme. Mit eben dieser Frage hatte sich auch das OLG Schleswig mit Urteil vom 26.01.2017 – 11 U 46/16 zu befassen, ist dabei aber zu einem äußerst wenig überzeugenden und mit der hergebrachten Dogmatik kaum zu vereinbarenden Ergebnis gekommen.
Sachverhalt
Der Sachverhalt ist für den ländlichen Raum Norddeutschlands im Jahre 2017 geradezu typisch: Die Klägerin ist Betreiberin einer Biogasanlage, die Beklagte Netzbetreiberin. Die Parteien stritten um die Höhe der von der Beklagten geschuldeten Einspeisevergütung, genauer: um die Frage, ob die Beklagte der Klägerin von Januar bis Juli 2014 einen sog. Landschaftspflegebonus in Höhe von rund 50.000 EUR zahlen musste (das ist vereinfacht ein Bonus dafür, nicht nur den zu einer Plage gewordenen Mais zu verstromen). Diesen Bonus hatte die Beklagte zunächst an die Klägerin gezahlt, aber später zurückgefordert. Dem war die Klägerin„ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“ nachgekommen und hatte den Betrag wieder an die Beklagte zurückgezahlt. Und, um die Ausgangslage völlig verwirrend zu machen, hatte die Beklagte hatte diesen Betrag aufgrund eines Irrtums im Laufe der ersten Instanz wiederum an die Klägerin überwiesen. Die Beklagte verlangte nun im Wege der Widerklage Rückzahlung dieses Betrages aus ungerechtfertigter Bereicherung. Die Klägerin verlangte weiterhin Zahlung in Höhe der Rückzahlung (die sie ja schon erhalten hatte!) mit der bemerkenswerten Argumentation, es sei rechtsmissbräuchlich, wenn die Klägerin die Beklagte durch eine Zahlung im Laufe des Rechtsstreits zu einer Erledigungserklärung zwinge. Das Landgericht war der Auffassung, dass der Klägerin der Landschaftspflegebonus nicht zustehe und hatte deshalb die Klage abgewiesen und die Klägerin auf die Widerklage antragsgemäß verurteilt. Dagegen wendete sich die Klägerin mit der Berufung, mit der sie aber ausdrücklich nur ihren Klageantrag weiterverfolgte, nicht aber den Antrag auf Abweisung der Widerklage.

Die erste Instanz hatte der Klägerin auf die Widerklage einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung in Höhe von 50.000 EUR zugesprochen und dabei einen Anspruch der Klägerin auf den Landschaftspflegebonus verneint. Dieser Teil des Urteils war rechtskräftig geworden, weil die Klägerin dagegen ja keine Berufung eingelegt hatte. Mit ihrer mit der Berufung weiteverfolgten Klage forderte die Klägerin aber weiterhin Zahlung von der Beklagten. Für das Berufungsgericht konnte sich nun die Frage stellen, ob es in der Sache und damit über den Landschaftspflegebonus überhaupt noch entscheiden musste, oder ob nicht mit Rechtskraft der Entscheidung über die Widerklage (§ 322 ZPO) darüber schon entschieden war, weil es ja auch insoweit um den Landschaftspflegebonus ging.
Entscheidung
Das OLG befasst sich zunächst mit der Frage, ob die Klage aufgrund der rechtskräftigen Entscheidung über die Widerklage wegen entgegenstehender Rechtskraft unzulässig ist:

„Die Klage ist zulässig. Sie ist nicht durch die Verurteilung der Klägerin auf die Widerklage hin wegen entgegenstehender Rechtskraft der Entscheidung über die Widerklage unzulässig geworden.

Zwar ist die Verurteilung auf die Widerklage hin rechtskräftig geworden. Klage und Widerklage haben aber nicht denselben Streitgegenstand. […] Denn der Widerklage liegt die Zahlung […] am 08.03.2016 zugrunde, mithin ein anderer Sachverhalt als der Klage. Identität der Streitgegenstände besteht lediglich insoweit, als es sowohl für die Begründetheit der Klage als auch für die Begründetheit der Widerklage auf die gemeinsame Vorfrage ankommt, ob die Klägerin einen Anspruch auf einen Landschaftspflegebonus für das Jahr 2014 hat.“

Die Klage sei aber unbegründet:

„Aufgrund der Präjudizwirkung der rechtskräftigen Verurteilung auf die Widerklage steht fest, dass der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auf den Landschaftspflegebonus nicht zusteht. Hat ein Gericht den Streitgegenstand eines rechtskräftig entschiedenen Prozesses erneut zu prüfen, hat es den Inhalt der rechtskräftigen Entscheidung seinem Urteil zugrunde zu legen […].

Die Beantwortung der Frage, ob die Klägerin von der Beklagten Zahlung in der geltend gemachten Höhe verlangen kann, hängt von der Vorfrage ab, ob die Klägerin einen Anspruch auf den Landschaftspflegebonus für das Jahr 2014 hat. Diese Vorfrage hat das landgerichtliche Urteil bereits rechtskräftig entschieden. Indem es der Widerklage stattgegeben hat, hat es festgestellt, dass die bejahte Rechtsfolge mit allen in Betracht kommenden Gegennormen vereinbar ist, dass ihr gegenüber also keine solche Gegennorm durchgreift […].

Das Landgericht hat im Urteil ausdrücklich ausgeführt, dass die Widerklage begründet ist, weil die Klägerin keinen Anspruch auf den Landschaftspflegebonus für 2014 habe, dieser stelle also keinen Rechtsgrund für die Zahlung dar. Deshalb habe die Beklagte am 08.03.2016 ohne Rechtsgrund gezahlt, so dass ihr gegen die Klägerin ein Bereicherungsanspruch zustehe.

Der Senat ist an diese Feststellung des Landgerichts gebunden.“

Anmerkung
Und das überzeugt mich – wie eingangs schon angekündigt – überhaupt nicht. Denn das dürfte mit dem hergebrachten Verständnis der materiellen Rechtskraft nicht zu vereinbaren sein. Auch die vom OLG zitierten Fundstellen im Zöller stützen die vertretene Ansicht nicht. Die materielle Rechtskraft erfasst nämlich nur das Prozessergebnis, d.h. die ausgesprochene Rechtsfolge. Oder, wie der BGH es in ständiger Rechtsprechung formuliert: „In Rechtskraft erwachsen gem. § 322 ZPO lediglich die im Hinblick auf den Streitgegenstand ausgesprochenen Rechtsfolgen, nicht jedoch die einzelnen Tatsachen, präjudiziellen Rechtsverhältnisse und sonstigen Vorfragen, aus welchen das Gericht diese Rechtsfolge abgeleitet hat“ (s. nur BGH, Urteil vom 05.11.2009, IX ZR 239/07 Rn. 9 f. mit einer Vielzahl von Nachweisen). Wollen die Parteien den Umfang der Rechtskraft erweitern, gibt ihnen die ZPO mit der Zwischenfeststellungsklage gem. § 256 Abs. 2 ZPO dazu ein geeignetes Werkzeug an die Hand (die in der Praxis leider völlig zu Unrecht ein Schattendasein fristet). tl;dr: Die Rechtskraft gem. § 322 ZPO erstreckt sich nur auf die ausgesprochene Rechtsfolge, nicht auf Vorfragen. Auf diese können die Parteien die Rechtskraft aber mittels einer Zwischenfeststellungsklage gem. § 256 Abs. 2 ZPO erstrecken. Foto: ADMC | pixabay.com | CC0 (bearbeitet)