OLG Hamm: Wann ist ein Verweisungsbeschluss objektiv willkürlich?

In meinem To-Do-Ordner haben sich in den letzten Wochen gleich drei OLG-Beschlüsse angesammelt, die sich mit der Frage der Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses i.S.d. § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO befassen und deshalb hier in den nächsten Tagen vorgestellt werden sollen.

Den Auftakt der kleinen Reihe macht der Beschluss des OLG Hamm vom 11.06.2014 – 32 SA 40/14. In dem Verfahren hatten fünf Frauen gegen den Gesellschafter und Mitbegründer eines Zentrums für Reproduktionsmedizin Klage auf Auskunft erhoben, wer die genetischen Väter ihrer Kinder seien. Die Klägerinnen hatten ihre Auskunftsansprüche mit jeweils 2.500 EUR beziffert. Bei einem Gesamtstreitwert von 12.500 EUR war daher das Landgericht sachlich zuständig, deswegen hatten die Kläger ihre Klage auch dort erhoben.

Aber das Landgericht hatte scheinbar wenig Lust auf das Verfahren. Es stellte sich daher auf den Standpunkt eine Zusammenrechnung der Ansprüche gemäß § 5 ZPO komme nicht in Betracht, weil es sich nicht um vermögensrechtliche Ansprüche handele. Diese Begründung ist – positiv ausgedrückt – jedenfalls individuell. Denn in § 5 ZPO ist von vermögensrechtlichen Ansprüchen nicht die Rede. Auch in Rechtsprechung und Literatur war zuvor noch niemand auf diese Auslegung gekommen. Nach Anhörung der Klägerinnen, die gegen diese Ansicht keine Einwände geltend machten, verwies das Landgericht den Rechtsstreit an das Amtsgericht.

Das Amtsgericht meinte nun, es sei an diese Verweisung nicht gebunden. Denn das Landgericht habe seine eigenwillige Auslegung noch nicht einmal begründet, der Verweisungsbeschluss des Landgerichts sei daher willkürlich. Das Amtsgericht legte die Sache daher dem OLG Hamm zur Entscheidung vor.

Es kommt in der gerichtlichen Praxis nicht selten vor, dass eine Klage vor dem „falschen“ – sachlich oder örtlich unzuständigen – Gericht erhoben wird. Die Klage ist dann mangels Zuständigkeit des angerufenen Gerichts unzulässig. Der Kläger muss in diesem Fall aber nicht seine Klage zurücknehmen und vor dem zuständigen Gericht erneut erheben. Einer Abweisung der Klage als unzulässig kann der Kläger auch entgehen, indem er einen Antrag auf Verweisung an das zuständige Gericht stellt (§ 281 Abs. 1 ZPO). Nach Anhörung des Beklagten verweist das unzuständige Gericht den Rechtsstreit durch Beschluss an das zuständige Gericht. Dieser Verweisungsbeschluss ist für die Parteien gem. Abs. 2 Satz 2 unangreifbar und für das Gericht, an das verwiesen wird, gem. Abs. 2 Satz 4 ZPO bindend. Wegen dieser Bindungswirkung kann das Gericht in der Regel weder weiterverweisen noch zurückverweisen.

Eine Ausnahme von der Bindungswirkung macht die Rechtsprechung jedoch dann, wenn das rechtliche Gehör verletzt wurde oder der Verweisungsbeschluss auf „objektiver Willkür“ beruht. Wer sich hier einmal die (beschämende) richterliche Kreativität gegenwärtigen möchte, wenn es darum geht, Arbeit zu vermeiden, der möge einmal in einem Kommentar die entsprechenden Beispiele lesen (z.B. bei Musielak/Foerste, ZPO, 11. Aufl. 2014, § 281 Rn. 17). Da tut – wie Foerste schreibt – „Richterethos, dh. eine Rückbesinnung auf die Bindung der dritten Gewalt“ dringend not.

Hält auch das Gericht sich für unzuständig, an das der Rechtsstreit verwiesen, muss es die Sache gem. § 36 Abs. 1 Ziff. 6 ZPO dem nächsthöheren Gericht vorlegen, das dann durch unanfechtbaren Beschluss (§ 37 ZPO) das zuständige Gericht bestimmt.

Die Kosten einer Verweisung fallen gem. § 281 Abs. 3 ZPO immer dem Kläger zu Last, auch wenn er den Prozess gewinnt.

Und das OLG meint dazu:

„Eine Bindungswirkung gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO wird […] nicht schon durch die bloße etwaige Unrichtigkeit der Beurteilung der Zuständigkeitsfrage infolge eines einfachen Rechtsirrtums des verweisenden Gerichts in Frage gestellt. Unbeachtlich ist ein solcher Beschluss vielmehr regelmäßig nur dann, wenn er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht oder wenn er schwere offensichtliche Rechtsmängel aufweist oder gar jeder Rechtsgrundlage entbehrt und aus diesen Gründen objektiv willkürlich ist […].

Die Voraussetzungen einer Willkür sind bei Anlegung dieses rechtlichen Maßstabs im Streitfall noch nicht erfüllt.

Zwar ist dem Amtsgericht F zuzugeben, dass die Verweisungsentscheidung des Landgerichts F auf der rechtlich unzutreffenden Erwägung beruht, eine Zusammenrechnung der Streitwerte gemäß § 5 ZPO scheide im Streitfall aus, weil es sich bei den Klageforderungen nicht um vermögensrechtliche Ansprüche handele. Tatsächlich ist die Anwendbarkeit der Norm nicht auf vermögensrechtliche Ansprüche beschränkt. Auf die diesbezüglichen zutreffenden Ausführungen des Amtsgerichts F in dem Beschluss vom 25.04.2014 nimmt der Senat Bezug.

Gleichwohl handelt es sich um einen einfachen Rechtsfehler des Landgerichts F bei der Anwendung des § 5 ZPO und der daraus folgenden rechtlichen Beurteilung der sachlichen Zuständigkeit nach §§ 71 Abs. 1, 23 Nr. 1 GVG, der die Bindungswirkung des § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO unberührt lässt. Das verweisende Landgericht F hat verkannt, dass sich der Anwendungsbereich des § 5 ZPO nicht auf vermögensrechtliche Ansprüche beschränkt. Rechtsfehler belegen jedoch für sich allein selbst dann noch keine Willkür, wenn sie – wie im Streitfall – drastisch sind […]. Willkür liegt vielmehr nur vor, wenn dem Verweisungsbeschluss jede rechtliche Grundlage fehlt und er bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist […]. Bei Anlegung dieses Maßstabs ist der Verweisungsbeschluss des Landgerichts F noch nicht als willkürlich anzusehen. Das Landgericht F hat den Regelungsgehalt des § 5 ZPO, welchen es durchaus gesehen hatte, unzutreffend beurteilt. Dies stellt jedoch lediglich einen einfachen Rechtsfehler dar, lässt die getroffene Entscheidung aber nicht als nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar erscheinen. Auch die Parteien haben diesen Rechtsfehler weder erkannt noch auf ihn aufmerksam gemacht, obwohl das Landgericht F diese vor der Verweisungsentscheidung mit Verfügung vom 11.12.2013 auf seine unzutreffende Rechtsauffassung hingewiesen hat.“

„Voraussetzungen einer Willkür noch nicht erfüllt“, „drastischer Rechtsfehler“, der Duktus des OLG ist relativ deutlich. Ich habe mir kurz überlegt, ob für derartige Entscheidungen das Schlagwort „Ohrfeige“ einführe. Aber vielleicht ging es der Kammer/dem Einzelrichter ja gar nicht darum, Arbeit zu vermeiden. Vielleicht hat sich die Kammer/der Einzelrichter ja tatsächlich geirrt…

Was mich aber auch wundert: Warum ist das denn den beteiligten Rechtsanwälten nicht aufgefallen?

Anmerkung/Besprechung: OLG Hamm, Beschluss v. 11.06.2014 – 32 SA 40/14. Foto: Rolle Ruhland / OLG Hamm | flickr.com |CC BY 2.0